Attila - Die Welt in Flammen
niedergebrannten Kirchen geraubt hatten, mit kostbaren Steinen besetzte Reliquiare, die die Gebeine längst vergessener Märtyrer bargen, Kelche, Stelzschuhe, über und über mit Juwelen besetzte Evangeliare, die sie nicht einmal lesen konnten.
Unter den Gefangenen in Colonia Agrippina waren auch eine junge Adelige aus Cornwall namens Ursula, die mit dem Sohn eines Patriziers der Stadt verlobt war, und ihre elf Jungfrauen. Nachdem sie sich eine Weile lang damit vergnügt hatten, die Mädchen zu zwingen, auf die Knie zu fallen und ihren Gott Astur anzubeten, vergingen sich die Hunnen an ihnen, ermordeten sie und ließen ihre Leichen zusammen mit vielen anderen von der Stadtmauer baumeln. Das Mädchen aus Cornwall wurde bald darauf heiliggesprochen, und rasch verbreitete sich eine Legende von der heiligen Ursula und ihren elftausend Jungfrauen. Auf diese Weise wandelte sich die Geschichte bereits zum Mythos, und es brach sich eine neue Zeit Bahn, in der fantastisch ausgeschmückte Erzählungen und törichter Aberglaube nüchternen Fakten und ordentlichen Chroniken vorgezogen wurden. Es war, als hielte zusammen mit Attila eine neue Strömung Einzug, ein neues dunkles Zeitalter, das von ganz Europa Besitz ergriff.
Die Invasoren verwüsteten das herrliche Moseltal, das Ausonius so gerühmt hatte, seine herrschaftlichen Villen inmitten üppiger Wiesen, seine dicht mit Weinstöcken bestandenen Hänge, zu deren Füßen Ruderer, die Stoffballen und Weinfässer transportierten, lachenden Mädchen, welche die Weinreben zurückschnitten, vom Fluss aus zuwinkten. In Augusta Treverorum verfielen die Einwohner auf den Gedanken, die Tore zu verbarrikadieren, doch Attila ließ seine Männer Frauen und Kinder aus umliegenden Gehöften mit dem Speer vor sich hertreiben und drohte, sie alle umzubringen, wenn die Bürger der Stadt die Tore nicht öffneten und mit ihnen verhandelten. Pflichtschuldig wurden die Tore geöffnet, um unschuldiges Leben zu retten, woraufhin die Hunnen alle töteten, Gefangene wie Bürger der Stadt. In Mediomatricum blieb kein Stein auf dem anderen, mit Ausnahme der kleinen Kapelle, die dem heiligen Stephanus geweiht war.
Oft kamen sie in Städte und Dörfer, die menschenleer waren, doch dann galoppierten die Kutrigurischen Hunnen besonders eifrig los, wie Spürhunde auf einer Fährte, und setzten ihre enormen Fähigkeiten beim Aufspüren ein. Fast immer fanden sie die flüchtigen Einwohner, die sich starr vor Entsetzen in einem nahe gelegenen Waldstück aneinanderdrängten, und machten ihnen dort den Garaus.
Nach zwei oder drei Wochen blinden Amoklaufs entlang der Mosel hinterließen Attila und seine Horden eine zweihundert Meilen lange Spur der Zerstörung.
Bei all diesem unbändigen Wüten stießen sie kaum jemals auf einen Hauch von Widerstand, und dennoch verfiel Attila in immer größeres Schweigen, zog sich immer mehr zurück. Auch wurde er immer abergläubischer und befragte unablässig Enkhtuya, was für Zeichen und Omen sie denn sehe und ob die Armee Westroms unter Aëtius nach Norden, in ihre Richtung, ziehe. Jede Nacht wurden seltsame Rituale in seinem Zelt abgehalten, Schamanen mit Pelzen trommelten auf gespannten Hirschhäuten, um den Beistand der Ahnen zu erflehen, und Zauberer mit Geweihen auf dem Kopf tanzten rasselschwingend und peitschten sich selbst, während sie nasale Zauberformeln rezitierten. Die Zukunft wurde im Schaum kochenden Wassers beschworen, in den Eingeweiden von Hühnern gelesen, aus wahllos hingeworfenen Stöckchen, aus den in der Hitze gesprungenen Schulterblättern des Viehs oder aus den Windungen brennenden Weihrauchs. Die Vorzeichen waren stets günstig, doch der Große Tanjou wirkte immer mehr wie ein Mann, der von übergroßen, namenlosen Sorgen bedrängt wurde.
Jemand sang:
Kehr um, kehr um, verrückter Herr,
Die Dinge sind nicht, wie sie scheinen,
Zum Albtraum ward die stolze Hoffnung,
Um die nun alle Welt muss weinen.
Das nun ist der Rache Lohn,
Das nun ist der Wut Gewinn,
Mein Herrscher liegt im Feld,
Und auch die Führer sind dahin.
Hoch über ihm zieh’n Milan und die Kräh’,
Sein Banner trieft von rotem Blut,
Die Schätze all, sie raubt’ die Flut.
Verloren ist sein Hab und Gut.
Attila brachte den Sänger nicht zum Schweigen. Er senkte nur den Kopf. Und ließ den Dingen ihren Lauf.
* * *
Von der Mosel bog Attilas Armee nach Westen ab und drang in die tiefen Wälder der Ardennen: Dies war das Land der Bataver, von
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