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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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Theater und so weiter – bloß wollte sie all das gar nicht hören. Sie fragte nur: »Wie geht es Ihnen?«, und eindeutig war dies keinphrasenhafter Begrüßungsappendix – sie wollte das wirklich wissen. Ich dachte also nach, tja, wie geht es mir eigentlich, das ist doch ausnahmsweise mal eine gute Frage. Und während ich immer tiefer in mir hinabstieg, auf der Suche nach der Antwort, verschwand Koelbls Gesicht kurz hinter ihrer altmodischen Kamera, sie justierte das Objektiv, kam dann wieder hinter dem Apparat hervor, provozierte jetzt Blickkontakt, lächelte – und schaute also im Moment des Auslösens nicht durch den Sucher, sondern mir direkt ins Gesicht. Ihre Mimik sagte: Dem Apparat kannst du etwas vorzumachen versuchen, mir aber nicht.
    Klick.
    Überreiztheit und Verzweiflung, die zu überspielen und dadurch noch zu verstärken mir in jenen Tagen zur Routine geworden war, hatte Herlinde Koelbl in diesem einen Moment dingfest gemacht. Sie knatterte nicht, wie es sonst üblich ist, Film um Film oder Chip um Chip voll, es entstanden nur wenige Fotos, und jedes davon ist als gelungen zu bezeichnen. Keineswegs in dem Sinne, dass ich mir selbst darauf besonders gut gefiele – aber sie »stimmen«.
    Jedes Abbilden der Wirklichkeit bedingt Manipulation, von der Porträt-Fotografie wird Betrug – aus naheliegenden Gründen – sogar erwartet, das verraten schon die gängigen Porträt-Bewertungskategorien, von »schmeichelhaft« bis »unvorteilhaft«. Und so hat jeder Mensch seine paar Posen drauf, ein »Fotogesicht«, und wendet der Linse das zu, was er an sich als schokoladenseitig empfindet. Ich zum Beispiel gucke, wenn ich fotografiert werde, lieber ernst, da mir mein Gesicht lachend besonders fett erscheint. Aber vor Herlinde Koelbls Kamera kann man posieren, wie man will, sie drückt erst ab, wenn einem die Attitüde entgleitet. Ausrüstung und Aufbauten hält sie klein, sie bringt nur eins im Übermaß mit: Zeit. Die meisten Fotografen wollen einen zu lächerlichen Sperenzchen verleiten, bitte mal in die Luft springen, mal die Hand an den Kopf, mal dies, mal das. Herlinde Koelbl hingegen wartet auf den einen Moment, flirtet listig, lässt sich nicht täuschen. Das Gespräch, in das sie einen währenddessen verwickelt, ist kein Vorwand, sie will tatsächlichetwas herausfinden und die Antwort Bild werden lassen. Irgendwann gibt man die Verrenkungen auf – und dann macht es klick, und das war’s, das ist dann das Bild. Und sollte es einem doch gelungen sein, die Pose zu halten, so wird man an diesem Foto später erst recht nicht die erhoffte Freude haben – es zeigt dann nämlich einen Menschen, der ganz offensichtlich posiert.
    Ein paar Jahre nach der ersten Begegnung mit Herlinde Koelbl geriet der Held meiner Autobiographie in gefährliche Turbulenzen: Ein fatales Symptom-Pingpong zwischen Essstörung und Drogen-Abusus machte eine stationäre psychiatrische Behandlung unumgänglich. Da dem Schreibenden das eigene Leben naturgemäß das ergiebigste Erschließungsgebiet ist, fand ich das alles zwar unter dem Aspekt späterer erzählerischer Ausbeutung höchst interessant, doch ist es in solch desperater Lage kaum kontinuierlich möglich, brauchbare Notizen anzufertigen; und auf bloße Erinnerung wollte ich mich erst recht nicht verlassen. Da fiel mir Herlinde Koelbl ein: die Stunde der Wahrheit vor ihrer Kamera damals und ihre spektakuläre Langzeitstudie »Spuren der Macht«, für die sie Gerhard Schröder, Angela Merkel, Joschka Fischer und andere über Jahre regelmäßig interviewt und fotografiert hatte. Doch doch, ein bisschen größenwahnsinnig darf man, derart am Boden, durchaus sein, das ist unter Umständen schon als therapeutischer Erfolg zu werten. Ich rief sie also an, sicherte mich zunächst mit Ironie ab: Ob wir nicht gemeinsam »Spuren der Nacht« fabrizieren könnten?
    In den folgenden Monaten besuchte sie mich an allen möglichen Orten, in jedem denkbaren Zustand, und filmte unsere Gespräche. Daraus entstand der Dokumentarfilm »Rausch und Ruhm«. Wir beide taten dies auf eigenes Risiko: Weder hatte sie Auftrag und Budget von einem Fernsehsender, noch war vorauszusagen, ob ich die ganze Sache überlebe; unausgesprochen war zwischen uns klar, dass ich ihr später beim Schnitt nicht reinreden würde und dass sie nicht die Retterin sein konnte, sondern nur das filmische Protokoll eines langen Weges führen würde. In dieser Zeit war sie der einzige nicht selbst am Abgrundtaumelnde Mensch, mit

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