Auch Deutsche unter den Opfern
aus Sorge um die Zukunft gegründete Partei nichts mehr zu fürchten scheint als Veränderung, und alles tut, um pragmatisch vorwärtsgerichtete Anti-Ströbeles wie Özdemir zu demütigen. Direktmandat in Stuttgart!
Es ist kurz nach halb eins, als im Asia Imbiss die Hocker auf die Tische gestellt werden. Wir gehen auf die Straße, man muss jetzt irgendwie »verbleiben«; es war ja ein angenehmer Abend. Selbstverständlich werde ich mit Ausnahme meiner Stimmzettelabgabe keine Partei wie auch immer geartet unterstützen, keine Lesung in einer Stuttgarter Buchhandlung, keine Videobotschaft, keine poetische Miniatur; also sage ich, was man immer sagt, um höflich irgendein Begehr abzuwimmeln: Ich denke noch mal drüber nach und melde mich dann.
Am nächsten Morgen höre ich im Radio, Özdemir habe sich für Rot-Rot-Grün im Saarland ausgesprochen. Na klar, logisch, das hat er mir ja gestern Nacht erklärt: Ohne Rot-Rot-Grün gebe es kein Schwarz-Grün.
Klingt weiterhin einigermaßen verrückt. Jedoch: »Ohne Rot-Rot-Grün gibt es kein Schwarz-Grün« – das ist doch eine »poetische Miniatur«. Nein, die Grünen brauchen diesbezüglich überhaupt keine Hilfe.
[ Inhalt ]
Mit Angela Merkel im Rheingold-Express
Ein Wolkengürtel liegt über der Mitte Deutschlands an diesem in Norden und Süden spätsommerlichen Frühherbsttag, und exakt entlang dieses Wolkenbandes geht die Fahrt mit dem Rheingold-Express. Weil alle Tage dieses Jahres jubiläumshaltig sind, ist es auch dieser: Heute vor 60 Jahren wurde Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt, und eingedenk dessen wird Angela Merkel von West nach Ost fahren, von der Vergangenheit (Adenauers Grab, Bonn) in die Zukunft (futuristische, kantigglasige Kommandozentrale Adenauer-Haus, Berlin).
Wir haben nun so viel gelesen, gehört, gesehen – und doch, wir wissen nichts über die Kanzlerin. Genau das, heißt es maliziös, sei ihr Erfolgsgeheimnis und ihre Machtgarantie.
Früh am Morgen hat Angela Merkel mit Nachkommen Konrad Adenauers an dessen Grab auf dem Rhöndorfer Waldfriedhof gestanden und das Vaterunser gebetet; mal den ersten Buchstaben des Parteinamens betonen. Die westdeutschen Katholiken und die ostdeutsche Protestantin – man nennt das Ökumene. Vaterunser, unser Vater, die Bahnstrecke als Zeitstrahl, so ist das wohl gedacht. Angela Merkel trägt auch heute eines ihrer berühmt seltsamfarbenen Jacketts: kräftiges Violett.
Vom Grab zum Museum: Im Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig tagte nach dem Zweiten Weltkrieg der Parlamentarische Rat, bis zum Umzug ins Palais Schaumburg diente es auch als Bundeskanzleramt. Die Straße, an der dieses Gebäude steht, heißt natürlich mittlerweile Adenauerallee. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite haben sich grünbehelmte Demonstranten postiert, sie sind der Hase&Igel-Running-Gag dieser Reise; überall, wo Merkel heute auftauchen wird, sind sie schon da, halten kleine grüne Windmühlen in dieLuft und rufen: »Klimakanzlerin gesucht!« Ihnen hier draußen geht es um die Zukunft, Angela Merkel aber spricht drinnen gerade über das Jahr 1949, das sie zumindest insoweit zu interessieren scheint, wie es sich für die unmittelbare Gegenwart beleihen lässt: »Damals, nach der Wahl im August: eine sehr knappe, aber doch mehrheitsfähige Koalition mit der FDP. Der Grundstein zur Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft.«
Treppe rauf, in Adenauers damaliges Büro. Norbert Röttgen murmelt jemandem zu: »Noch eineinhalb Wochen, jetzt wird’s dann langsam Zeit.« Er könnte – so wirkt das – noch anfügen: Aber mich fragt ja keiner. Adenauer, sagt nun der Direktor des Hauses, brauchte keinen Pomp und keinen Glanz. Angela Merkel nickt, trägt sich ins Gästebuch ein und fragt die Fotografen, ob sie nun genug geschaut habe – da lachen alle.
Röttgen: So ein Büro hätte ich auch gern.
Kann ja noch kommen, sagt jemand höflich.
Eine Journalistin fragt: Wünschen Sie sich auch so ein Büro?
Merkel: Ich habe über mein Büro nicht zu klagen.
Wieder allgemeine Heiterkeit, ihr Büro ist viel größer als dieses hier, wie jeder weiß.
Dieses willfährige, erleichterte Lachen über Scherze von ihr, die eigentlich immer nur normale Sätze sind; diese latente Angst, dieser dennoch immer auch mitschwingende Hochmut. Man kann sich Merkels Macht nicht erklären. Aber man spürt sie.
Der Anfang dieses Tages also reinste Vergangenheit: ein Grab, ein Museum, Abfahrt im »Nostalgie-Zug«
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