Auch Deutsche unter den Opfern
Glieder habe: Steinmeier – Arbeitsplätze.
So, als rein mathematische Gleichung betrachtet, passt Politik wiederum sehr gut zu Steinmeier. Nur der von der SPD so gern beschworene Beispielcharakter der schröderschen Aufholjagd vor vier Jahren taugt dann nicht mehr, war doch deren Hauptwesenszug gerade die völlige Unberechenbarkeit, Programm im Affekt. Es ist Karl Lauterbach, der Gesundheitspolitiker mit der Fliege, der in eine der Rumstehgruppen wenigstens ein bisschen Schwung bringt: Man müsse jetzt zuspitzen! Die SPD positionieren als alleinige Bewahrerin des Sozialstaats. Gehörige Steuermehrbelastungen für Wohlhabende seien dann zwar unumgänglich, und das wüssten auch alle Parteien genau, doch sei es suizidal, so etwas vor einer Wahl öffentlich zu sagen. Wie also ist vorzugehen, wenn man nicht zu doll lügen will? Lauterbach: »Wir müssen uns aus dem Judogriff der Wahrheit befreien!«
Und das war sie auch schon, die einzige abenteuerliche Formulierung, die an diesem Abend im Kreise der Kreativwirtschaft zu hören ist. Ansonsten geht es um Altersvorsorge und Daumendrücken. Steinmeier wandert nach seiner kurzen Ansprache von Kölschtisch zu Kölschtisch, wird von Elke Heidenreich umarmt, die ihn anfeuert, die SPD müsse es schaffen, »damit es wenigstens so bleibt, wie es jetzt ist«. Da kommt Renan Demirkan, auch sie umarmt den Kandidaten: »Ich wünsche dir ganz viel Kraft, so viel es geht!«
Der Kandidat wird auf seiner Reise überall sehr freundlich empfangen. Es fällt nur auf, dass die Menschen ihm Mut machen, Kraft und Glück wünschen. Man kennt das aus Wahlkämpfen eigentlich andersherum. Einen »Mutmachroboter« schenkt der Professor in München Steinmeier als Andenken an den Universitätsbesuch, ein lustigbuntes Blechspielzeug zum Aufziehen, der lasse sich nicht unterkriegen, sagt derProfessor. Steinmeier hält den Mutmachroboter lächelnd in Richtung Kameras, zunächst die Rückseite, auf der steht »k. o.«. Der Professor empfiehlt ihm, das Ding lieber umzudrehen: Auf der Vorderseite steht »No 1«. Steinmeier dreht den Blechroboter also um, und nun kann sich ein jeder aussuchen, welches Bild ihm besser gefällt.
[ Inhalt ]
Cem Özdemirs Kulturwahlkampf
Zurückgekehrt aus dem Sommerurlaub, sortierte ich den Briefkasteninhalt in die üblichen Stapel: Stresspost, Berufspost, Privatpost, Müllpost. Zwei Briefe jedoch bedurften eines neuen, fünften Stapels: Politikpost. Die Wahlbenachrichtigung und – na nu? – ein Brief von Cem Özdemir, dem Bundesvorsitzenden der Grünen; eigenhändig unterschrieben: »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie bereit wären, mit Ihrer Persönlichkeit grünen Ideen weiteren Auftrieb zu verschaffen.«
Um mal Loriot zu zitieren: »Ach?!«
Weder habe ich schon entschieden, wen ich am 27. 9. wähle, noch dächte ich auch nur im Albtraum daran, zur Wahl einer Partei aufzurufen, geschweige denn, politische Auftragskunst zu kreieren: »Was die politische Farbe Grün für Sie ausmacht, in Form eines Statements, einer poetischen Miniatur, eines Filmclips, einer Zeichnung, eines Songtextes, im Rahmen eines Auftritts oder auch im Internet.«
An Missverständnissen und Irrtümern jedoch allzeit interessiert, wählte ich die im Briefkopf unter dem Wort »Kulturwahlkampf« angegebene Telefonnummer und fragte, ob schon jemand zugesagt habe. Oh ja: Tanja Dückers, Suzi Quatro, Nina Kronjäger, Inga Humpe, Mousse T., Ralph Herforth und viele andere.
Mein Interesse war geweckt; keineswegs, da mitzumachen, wohl aber, zu erkunden, wie so was abläuft – im Selbstversuch. Kulturwahlkampf!
Ein paar Tage später meldete sich Özdemir: »Ja, cool«, war das Erste, um nicht zu sagen: Erschte, was er sagte. Ja, cool. Er sei gerade in Stuttgart, wo er um das Direktmandat kämpfe. »In der Audostadt!« Schön, und was wäre mein Part dabei? Da könne er sich manches vorstellen, sagte Özdemir, zum Beispiel eine Lesung in einer Stuttgarter Buchhandlung. In zwei Tagen sei er in Berlin, dann könnten wir uns treffenund alles besprechen, allerdings erst spätabends. Na, ist doch umso kultureller, scherzte ich, und das fand Özdemir natürlich: cool. Also, abgemacht, 23 Uhr, na wo schon? In Kreuzberg.
Und da warte ich jetzt seit zehn Minuten, wo bleibt Cem Özdemir? Das von ihm als nächtlicher Treffpunkt vorgeschlagene Café ist drinnen wie draußen voll besetzt, lustige, typisch Kreuzberger Uniformität des Andersaussehens, jeansig, ledrig, löchrig, fleckig, gebatikt; es werden
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