Auch ein Waschbär kann sich irren
Bill ist oder Ihr Mann, und ich glaube bestimmt, wenn wir uns kennengelernt hätten, wären wir Freunde geworden. Bill schenkte sein Vertrauen keinem Menschen, der das nicht verdiente. Sie sind heute ein bißchen ruhiger als gestern, und... vielleicht können wir heute etwas finden, wenn’s Ihnen nicht zu schmerzlich ist«, fügte ich rasch hinzu.
»Ben hat vielen Menschen geholfen«, sagte sie. »Wir haben uns vor siebzehn Jahren kennengelernt und vor zwölf Jahren geheiratet. Unser erstes Kind, ein Junge, starb bald nach der Geburt. Anfangs hatte ich immer Angst um Ben, und ich habe seinen Beruf lange Zeit gehaßt. Aber dann hab’ ich gesehen, wieviel Gutes er getan hat, wie vielen Menschen er aus einer bedrängten Lage helfen konnte, und da habe ich es gelernt, seinen Beruf genauso zu lieben, wie er ihn liebte.«
Sie blickte, während sie sprach, unentwegt zum Fenster hinaus. Obwohl das Fenster geschlossen war, hörten wir die Kinder jauchzen.
»Ich war heute morgen«, sagte sie, »als Olivia noch schlief, in der Kirche und habe für den Menschen gebetet, der Ben erschossen hat. Ben sagte immer, daß jeder Verbrecher unser Mitleid verdiene.«
Ja, dachte ich bitter, und das hat er nun davon! Mitleid! Mitleid mit einer Bestie, die Bill und Ben tötete — nein, ich hatte keins. Und ich würde es niemals im Leben haben.
»Wenn Sie seine Sachen noch mal durchsehen wollen«, sagte sie, »dann tun Sie das bitte. Ich werde Sie dabei nicht stören.«
Sie ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich. Ihre Worte hatten mich so sehr beeindruckt, daß ich noch eine Weile brauchte, um zur Wirklichkeit zurückzufinden. Sie hatte für den Mörder ihres Mannes gebetet! Ich kam mir plötzlich schäbig vor; denn ich konnte meine Wut einfach nicht eindämmen: ich brauchte nur an Bill zu denken, und ich hätte den Mörder ohne die geringsten Gewissensbisse töten können.
Ich setzte mich und fing an, die Schriftstücke der Reihe nach durchzusehen. Ich nahm mir diesmal Zeit und brauchte mindestens eine Stunde, aber ich fand nicht die kleinste Spur, die zu den Verbrechen führte. Ob ich mich verrannt hatte? Womöglich war es doch nicht ein und derselbe Fall? Vielleicht hatte Bills Tod wirklich nichts mit dem von Rogers zu tun?
Ich versank in eine unfruchtbare Grübelei, aus der ich erst aufschreckte, als es leise an die Tür klopfte.
Mrs. Rogers kam herein. Sie trug ein Tablett mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen. Mit einer fast schüchternen Gebärde stellte sie beides auf den Schreibtisch.
»Ich dachte — vielleicht...«
Ich würgte den Kloß in meiner Kehle hinunter, und dann aß ich den Kuchen und trank den Kaffee, obwohl mir gar nicht danach zumute war.
Mrs. Rogers hatte sich so gesetzt, daß sie wieder zum Fenster hinausblicken konnte. Als ich fertig war, sagte sie, wie um sich zu entschuldigen:
»Ben hat mir immer alles abgenommen. Ich weiß gar nicht, wie ich — jetzt — mit allem fertig werden soll.«
Sie gab sich keine Mühe mehr, die Tränen zurückzuhalten, die still auf ihre im Schoß gefalteten Hände tropften.
»Ich habe heute morgen auch gebetet, daß Gott mir die Kraft geben möge, es Olivia zu sagen. Ich muß es ihr sagen, ehe sie es von den Nachbarn erfährt. Ich zittere, wenn ich zuschaue, wie die Kinder spielen. Ein unbedachtes Wort und — die Nachbarn wissen’s vielleicht noch gar nicht, aber — mein Gott, ich muß es dem Kinde sagen! Ich — bin zu feige dazu, ich — ich kann’s einfach nicht.«
In einem plötzlichen Entschluß stand ich auf, trat zu ihr und nahm ihre Hände in meine.
»Liebe Mrs. Rogers — lassen Sie mich es tun. Wenn Sie Vertrauen zu mir haben, dann lassen Sie es mich dem Kinde sagen.«
Sie blickte mich sekundenlang an, dann senkte sie den Blick zu Boden und flüsterte:
»Es ist Unrecht, ich müßte es selbst tun, aber Gott wird mir verzeihen, wenn ich’s nicht kann.«
»Vielleicht«, sagte ich ein wenig unsicher, »hat er mich hergeschickt, um es zu tun.«
9
Ich ging hinaus und winkte Olivia. Sie nahm Nero am Halsband, aber die anderen Kinder kamen mit, und alle umstanden mich erwartungsvoll.
»Hast du Lust, Olivia, ein Stückchen mit mir spazierenzufahren?«
»Ja!« schrie die ganze Horde im Chor, »wir auch, wir auch!«
»So viel Platz hab’ ich nicht in meinem Auto«, erklärte ich lachend, »komm, Olivia! Deine Mutter hat’s erlaubt.«
Ich deutete zum Fenster, wo Mrs. Rogers stand.
»Darf ich?« rief Olivia.
Mrs. Rogers nickte und
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