Auch ein Waschbär kann sich irren
Sie ihm einen schönen Gruß von mir, er soll die Finger von dieser Frau lassen.«
ich antwortete nicht, und Barkley schien auch keine Antwort erwartet zu haben. Eine der Katzen sprang mir auf den Schoß und ließ sich schnurrend nieder. Barkley goß den Inhalt einer eimergroßen blauen Kaffeetasse in sich hinein, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, holte einen Kamm aus der Schublade und kämmte hingebungsvoll seinen Bart. Schließlich klemmte er sich einen Zwicker auf die viel zu kleine, stumpfe Nase, die sich heftig dagegen wehrte.
Er kam, einen Stuhl vor sich herschiebend, an den großen Tisch und setzte sich mir gegenüber.
»Also bitte«, sagte er mit einer ermunternden Handbewegung, »wo drückt der Schuh?«
Ich gab ihm Esthers Bestätigung.
»Könnten Sie mir bitte über diese Schrift etwas sagen?«
Er schaute sie kurz an, dann nahm er den Zwicker ab und schaute mich an.
»Die Graphologie, mein Herr«, erklärte er, »ist eine reelle Wissenschaft. Sie hat mit Zauberei oder Hellseherei gar nichts zu tun. Das einzige, was ich aus keiner Schrift mit Sicherheit feststellen kann, ist das Alter und Geschlecht der fraglichen Person. Also bitte!«
»Weiblich«, sagte ich, »etwa 22 Jahre alt.«
Es dauerte geraume Weile, bis er seinen Zwicker wieder befestigt hatte. Dann zog er hinter seinem Ohr einen Bleistiftstummel aus seinen Haaren, den ich bis dahin noch gar nicht entdeckt hatte, und tippte damit auf die Schriftzeichen.
Ich beobachtete ihn sehr gespannt, um mir nicht die kleinste Regung seines Gesichtes entgehen zu lassen. Die einzige Regung jedoch, die ich feststellen konnte, bestand darin, daß sich seine Mundwinkel immer mehr nach unten zogen. Endlich schob er mir das Papier herüber und sagte:
»Wissen Sie, mein Herr, ich tu’s nicht gern. Schriftlich ist das etwas anderes, aber ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich den Leuten die Wahrheit sage, werden sie wütend auf mich, wenn’s nichts Günstiges ist. Sie glauben, ich wolle sie beleidigen, weil sich jeder für klüger hält, als er ist. Soll ich Ihnen nun etwas vorlügen, oder wollen Sie die Wahrheit hören?«
»Die volle Wahrheit, Mr. Barkley.«
Er zog den Zettel wieder zu sich, murmelte halblaut vor sich hin, und schließlich sagte er:
»Mit einem Wort: herzlich unbedeutend. Materialistisch bis zum Geiz, beschränkter Horizont, rechthaberisch aus mangelnder Intelligenz, kaum ausgeprägtes Gefühlsleben, bigott und alles in allem ein seelisch so verbogenes Geschöpf, daß man Mitleid haben müßte. Das kostet fünf Dollar, und wenn Sie noch mehr wissen wollen, kostet’s zwanzig.«
Ich war sekundenlang sprachlos, dann stotterte ich:
»A... Aber... dieses Mädchen hat... seinen Bruder... umgebracht!«
Er tippte ärgerlich mit seinem Bleistift auf die Schrift, schüttelte den Kopf und sagte:
»Wenn sie das wirklich getan hat, dann muß es aus Versehen passiert sein, weil sie ihn mit irgend etwas anderem verwechselt hat. Dieses Mädchen ist viel zu borniert, um einen Mord zu begehen. Höchstens fahrlässige Tötung.«
Nun zog ich hastig seinen Brief an Bill aus der Tasche.
»Aber hier«, sagte ich verstört, »hier haben Sie doch eine Schrift beurteilt und sind zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. «
Er beachtete den Brief nicht, sondern schaute lächelnd zu, wie eine der Katzen versuchte, mir von hinten auf den Kopf zu klettern.
»Es werden immer mehr«, sagte er, »man kann nichts dagegen tun. Alle Leute haben schon welche. Wollen Sie eine haben? Die kleine schwarz-rote dort, die ist schon ganz sauber.«
»Vielen Dank«, sagte ich, »ich bin Junggeselle und dauernd unterwegs.«
Er nickte betrübt und warf nun einen kurzen Blick auf das Schreiben. Dann sprang er hoch.
»Tja!« rief er, »du liebe Güte! Das ist doch was ganz anderes! Das ist eine Frau, Donnerwetter noch mal! Tja, das sind Probleme, mein Herr! Das sind echte, große, erschütternde Probleme des Menschenlebens, die sich hier in einem einzigen Menschen akkumuliert haben. Diese Frau ist einmalig, und ihr Brief ist das kostbarste Stück in meiner Sammlung! Ich kenne viele Kollegen, denen so was in ihrer Praxis noch nie begegnet ist.«
»Zeigen Sie mir bitte den Brief, Mr. Barkley«, bat ich, »bitte zeigen Sie ihn mir!«
Er wandte sich um, zog eine Schublade aus einem uralten Küchenbüffet, raschelte eine Weile mit Papier, und dann kam er mit dem Brief zurück. Mit einer beinahe feierlichen Gebärde legte er ihn vor mich auf den Tisch.
Es war weißes,
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