Auch sonntags Sprechstunde
Hawkins.«
»Bei ihr ist das Telefon nicht in Ordnung, Doktor. Sie hat von einer Telefonzelle aus angerufen.«
»Wie lange ist das her?«
»Ungefähr vor einer halben Stunde. Sie machte aber keinen aufgeregten Eindruck.«
Ich war es jedoch. Manchmal war eine dringende Nachricht ganz unwichtig, aber ein unverdächtig klingender Anruf konnte bei mir Alarmstimmung auslösen.
»Ich schaue bei ihr hinein, wenn wir fertig sind.«
»Es warten noch ein Dutzend Leute... «
In diesem Augenblick läutete das Telefon auf meinem Schreibtisch, wohin Miss Nisbet umgestellt hatte, als sie ihr Büro verließ. Sie stand direkt neben dem Apparat, während ich Patricias Ohr am Fenster untersuchte.
»Ich antworte selbst«, sagte ich. Ich werde nie herausbekommen, was mich so handeln ließ, aber dies rettete an jenem Morgen das zweite Menschenleben.
Ich nahm den Hörer ab. Ehe ich eine Möglichkeit hatte, etwas zu sagen, hörte ich eine Stimme: »Bitte, kommen Sie!« Dann war die Leitung tot. Das war alles.
»Etwas Wichtiges?« fragte Miss Nisbet.
Hätte sie den Anruf abgenommen, wäre es aus gewesen. Kein Name, keine Andeutung, keine Adresse. Zweifellos war es die Stimme von Lucy Gunner gewesen. Ich beendete die Untersuchung und gab Mrs. Dankworth das Rezept.
»Ich bin in zehn Minuten wieder zurück«, sagte ich.
Ich blieb jedoch drei Stunden aus.
Lucy Gunner war ein Symbol unserer Zeit, einer schnellebigen, grausamen Zeit, die die Menschen immer stärker werdenden Belastungen aussetzt. Zu der ständig wachsenden Zahl junger und alter Patienten, die mit Depressionen in meine Praxis kamen, gehörte auch Lucy Gunner. Wir leben heutzutage unter solchem Druck, so viele Verheißungen werden durch die Massenmedien angeboten, so vieles verwirrt die Menschen. Es ist, finde ich, kaum überraschend, wenn die Frauen vor scheinbar unüberwindlichen Bergen von Hausarbeit still in die Abwaschschüssel weinen und die Männer von mir jene Zaubermittel verlangen, die sie vor dem Zusammenbruch retten sollen. Der Prozentsatz seelischer Krankheiten nahm mit alarmierender Schnelligkeit zu. Die weniger ernsten Fälle brauchten Hilfe, die schlimmeren wünschten den Tod herbei. Ich konnte mich glücklich schätzen, in Robin einen Kompagnon zu haben, der sich der Psychiatrie verschrieben hatte. Er hatte einen Assistentenposten in der Abteilung für psychosomatische Medizin einer Universitätsklinik, wo er wöchentlich an zwei Vormittagen arbeitete, und dank seinem ausgezeichneten Spezialwissen behandelte er so viele unserer Patienten, wie er nur zu bewältigen vermochte.
Lucy Gunner kam zuerst zu mir. Ich kannte sie noch nicht, und als sie zum erstenmal ganz still vor meinem Schreibtisch saß, bot sie einen Anblick, an dem sich auch ein Degas oder ein Renoir erfreut haben würde.
»Sind sie erst kürzlich hierher gezogen?« fragte ich.
»Nein.« Ihre Stimme klang rauh wie feines Sandpapier. »Aber man hat mir von Ihnen erzählt. Vielleicht können Sie mir helfen.«
»Ich will es versuchen«, sagte ich und dachte, daß es mir ein Vergnügen sein würde. Sie schien mir eine der schönsten Frauen zu sein, die ich außerhalb des Kinos je gesehen hatte: »Wo drückt denn der Schuh?«
Es dauerte ziemlich lange, bis sie mir antwortete. Ich wartete, bewunderte ihre schön geformte Nase. Sie bewegte weder ihre Hände, noch sah sie aus dem Fenster, noch veränderte sie ihre Haltung. Sie saß einfach still da.
»Ich fühle, daß ich mit meinem Leben am Ende bin«, sagte sie schließlich mit gepreßter Stimme. Sie war zweiundzwanzig.
»Erzählen Sie doch, bitte!«
»Ich wache früh auf, und dann stellt sich ein schreckliches Gefühl ein, das kaum zu beschreiben ist, eine Art Schwere. Ich habe keine Lust, irgend etwas zu tun; nichts scheint mir wert, getan zu werden; es hat auch keinen Sinn, mit jemandem zu sprechen, oder aufzustehen und zu leben. Es macht mir Angst.«
»Sprechen Sie weiter.«
»Ich sage mir dann, daß ich alles besitze, was das Leben nur geben kann. Harry, meinen Mann... Wir haben einen zwei Jahre alten Sohn, Mark... Ich schaue ihn an und denke: Warum? Wozu das alles? In den Geschäften sehe ich mir die Dinge an, nichts bedeutet mir etwas, weder Essen noch Kleidung... ich kann mich einfach für nichts interessieren... «
»Und wie lange geht das schon?«
»Ich weiß es nicht. Eine ganze Weile jedenfalls. Ich habe Angst... deshalb komme ich. Harry weiß nichts davon.«
»Angst wovor?«
Sie antwortete nicht.
Ich wartete, die
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