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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
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mußte auf die Sechzig zugehen.
    »Kommen Sie«, sagte ich und wandte meine Schritte wieder der Unfallstation zu. »Dr. Letchworth ist bei Ihrer Frau.«
    »Ist sie...?« Sein Gesicht war grau.
    Zum drittenmal an diesem Vormittag versuchte ich beruhigend zu wirken, einen Optimismus auszustrahlen, den ich selbst nicht empfand.
    Später erfuhr ich die seltsame Geschichte der Gunners. Wie mir Robin erzählte, war Harry Gunner bis vor vier oder fünf Jahren noch ein glücklich verheirateter Mann gewesen, mit drei erwachsenen Kindern, von denen eines bereits verheiratet war und eigene Kinder hatte. Eines Morgens, so erzählte man sich, hatte Harry Gunner, seit dreißig Jahren ein zufriedener Familienvater, über den Frühstückstisch hinweg einen Blick auf seine Frau geworfen. Sie trug einen Morgenmantel, wie es um diese Tageszeit so üblich ist, und ihre üppigen, von keinem Korsett gehaltenen Formen quollen oberhalb und unterhalb des Gürtels hervor. Ihr Haar, das sie wöchentlich mit einem zarten Blau tönen ließ, war noch grau, und ihr Gesicht nachlässig geschminkt. Harry las die Times, eine Abwehrstellung, die er jahrelang erprobt hatte; seine Frau, die dauernd über Schmerzen im Rücken, in der Stirn und in den Beinen klagte, kritisierte, daß die neuen Vorhänge anders ausgefallen waren als das Muster, daß ihre Tochter unverantwortlicherweise das Enkelkind bei diesem schlechten Wetter ausfuhr und die Freundin des ältesten Sohnes sich weigerte, Schuhe zu tragen. Aus einem Grunde, den Harry Gunner selbst nicht erklären konnte, bemerkte er, wie er die Frau vor sich am Frühstückstisch mit der Fotografie auf dem Kaminsims verglich, die allerdings weit zurücklag, es war das Bild einer jungen Braut, so frisch und zart wie die Gardenien, die sie trug. Wohin nur, fragte er sich, verschwanden all die hübschen jungen Mädchen, und woher kamen all die streitsüchtigen Frauen? Nicht, daß seine Frau eine Streitaxt war, sie liebte ihn auf ihre Weise, versorgte ihn tadellos, lachte nur gelegentlich und murrte ununterbrochen. Plötzlich, nach einer Ehe von über dreißig Jahren, war ihm die Frau hinter der Kaffeetasse fremd geworden. Er blinzelte, um die ketzerischen Gedanken hinter seiner Stirn zu verscheuchen. Sie blieben und weigerten sich hartnäckig, zu verschwinden. An diesem Tag tat er seine übliche Arbeit in der City. Zu seiner Überraschung tat er noch etwas anderes. War etwa auch er alt geworden? Ganz gewiß fühlte er sich nicht danach, der Spiegel verneinte es. Er beschloß, auszuprobieren, welchen Eindruck er machte, und begann, hübsche Mädchen anzulächeln. Sie lächelten zurück, aber nur, um ihm in den Mantel zu helfen oder ihm im Zug einen Platz anzubieten. Er kam sich wie ein Schürzenjäger vor, sie behandelten ihn wie Lear. Und dann begegnete ihm Lucy Brown. Lucy arbeitete in der Florian-Galerie, wo Harry Gunner gegen Mittag auf der Suche nach einem Bild erschien, das er kaufen wollte. Er besaß bereits einen Dufy. Er hatte erfahren, daß man bei der Florian-Galerie einen Braque besaß. Niemand allerdings hatte ihm berichtet, daß sie auch Lucy Brown besaßen. Sie stand in der Nähe des Fensters der Galerie, als er hereinkam. Die schönen Frauen waren ihm als einfältig lächelnde Botticelli-Venus ebenso vertraut wie die etwas kräftigeren von Rubens. Doch kaum hatte er eine schönere gesehen als Lucy Brown. Sie war hochgewachsen und schlank; doch nicht so dünn, um nicht unter dem silbergrauen Pullover, den sie über einem Sportrock trug, mehr als nur einen Hinweis auf ihre Figur zu zeigen. Das helle Kinderblond ihres Haares war nachgedunkelt und umrahmte wie dunkelglänzendes Gold ihr ovales Gesicht. Sie fragte, ob sie ihm behilflich sein könne. Er vergaß den Braque. Er sagte, es sei nicht wichtig und war bereits dabei, die Galerie zu Verlassen, als sie ihn mit dem freundlichen Lächeln der Jugend für ältere Herren anlächelte, mit dem er während der letzten Wochen so vertraut geworden war. In diesem Augenblick jedoch war Florian selbst gekommen. »Ah, Mr. Gunner«, sagte er, »wir haben Ihren Braque in dem hinteren Raum. Miss Brown wird ihn Ihnen zeigen. Entschuldigen Sie mich bitte, meine Parkuhr läuft in zwei Minuten ab, und ich habe eine Essensverabredung.« Damit verließ er die beiden. Aus solchen Alltäglichkeiten ergeben sich oft glückliche Wendungen.
    »Es ist sehr warm hier«, sagte sie. »Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
    Für einen Augenblick antwortete er nicht. Er konnte

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