Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
Vom Netzwerk:
nicht. Erstens hatte er keine so hinreißende Stimme erwartet, die ihn bis ins Innerste erregte, zweitens wünschte er den Moment hinauszuzögern, wo sie ihn freundlich anlächeln würde, die Junge den Alten, wenn sie ihm aus seinem schweren Mantel half.
    Er sah sie nicht an. Er knöpfte den Mantel auf und fühlte, wie sie ihn von seinen Schultern nahm. Als er ihr seinen Seidenschal reichte, vergaß er seinen Entschluß. Er sah in ihre tiefen grauen Augen und entdeckte zu seiner völligen Verwirrung, daß sie ihn weder mit Sympathie noch mit Interesselosigkeit ansah, sondern daß sie ihn mit entschiedenem Interesse betrachtete. Er kaufte den Braque nicht. Er warf nicht einmal einen Blick auf das Bild. Als Florian zurückkam, war er, auf dem Sofa im Hinterzimmer, gerade fertig geworden, Lucy die Geschichte seiner dreißigjährigen Ehe zu erzählen und lauschte nun mit Sympathie der Geschichte ihres verzweifelt unglücklichen Ehejahres mit einem hübschen, dem Spiel verfallenen jungen Mann, von dem sie gerade geschieden worden war.
    Er hatte dagegen angekämpft. Dreißig Jahre waren dreißig Jahre. Er war weder rücksichtslos noch ein Mann ohne Prinzipien. Nach einem kummervollen Jahr wußte er, daß er Lucy Gunner zu sehr liebte, um sie zu seiner Freundin zu machen. Sie hatten also vor drei Jahren geheiratet, seine Enkelkinder waren älter als ihr Sohn. Sie war genauso verliebt in ihn wie er in sie, und ihre Umgebung hatte den Altersunterschied zwischen ihnen akzeptiert. Harry Gunner war nicht der erste Mann, der seine verlorene Jugend zurückerlangen wollte. Aber wenige hatten es erfolgreicher versucht.
    Das alles war mir an diesem hektischen Vormittag unbekannt, als die schöne Lucy Gunner um ihr Leben kämpfte oder vielmehr Robin und Bob Hurst darum kämpften. Nur das eine war mir klar, daß Harry Gunner, ihr Mann, viel zu alt für sie war.
    Ich brachte ihn zu Robin und ging zu Margaret Powell.
    Auch Margaret Powell, die mit ihren sechzehn Jahren bereits Mutter werden sollte, war ein Produkt unserer Zeit. Margarets Eltern waren seit vielen Jahren meine Patienten und, wie man so sagt, »ordentliche Leute«. Dieses Etikett bedeutete ein sauber gehaltenes Vorstadthaus, einen Mann, der mit einigem Erfolg als Versicherungsagent tätig war, und eine Tochter in der Städtischen Grammar School. Margaret, das schwarze Schaf, hatte indessen keine Lust, für ihr Examen zu arbeiten, und befand sich damit im Gegensatz zu ihren Eltern, denn sie sah keinen Anlaß, ihre Haltung dem Leben gegenüber zu revidieren. Ihre Philosophie konnte man in den Worten zusammenfassen: »Ist doch egal!« Ihre Eltern fragten sich häufig, womit sie ein solches gottloses Kind verdient hatten, dem es in jeder Hinsicht an moralischer Erleuchtung fehlte. Sie hatte, soweit ihre Eltern das zu beurteilen fähig waren, keine positiven Charaktereigenschaften. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich über Gebühr mit ihrem Äußeren beschäftigt, und in den letzten Jahren beanspruchte die Pflege ihres Haars, von Nägeln und Kleidung sie völlig. Sie war nicht fähig, früh pünktlich zur Schule zu gehen, denn sie mußte immer wieder jede Haarsträhne vor dem Spiegel kämmen und ihr Haar in eine groteske Frisur zwingen. Abends zog sie sich niemals ohne eine komplette Ausrüstung von Nadeln, Netz und Lockenwicklern über den Ohren zurück. Waschen, wenn überhaupt, war von sekundärer Bedeutung. Laut Mrs. Powell, deren Verzweiflung mit den Jahren immer mehr wuchs, war Margarets Unterkleidung ein Skandal. Für Mrs. Powell war diese Schlampigkeit ein Kreuz, das sie täglich mit sich trug. Es war indessen ein leichtes Kreuz, verglichen mit Margarets Lebensphilosophie. Niemand nahm, wie Margaret sagte, in dieser grandiosen Zeit noch die geringste Notiz von Eltern oder Lehrern; niemand arbeitete - warum denn auch? Niemand beschäftigte sich mit anderen Dingen als dem Fernsehen, Tanzen und dem anderen Geschlecht; was anderes gab es denn, das wichtig war? Verrückte gingen in die Kirche, Narren hatten gute Manieren und Schwachsinnige halfen zu Hause. Alle meine Freunde, gemäß Margaret Powell, rauchen, sie versammeln sich draußen vor der nächsten U-Bahn-Station, um herauszufinden, wo die nächtliche Zerstreuung stattfinden wird, und lassen es sich jeden Augenblick eines jeden Tages gutgehen. Wofür war das Leben denn sonst da? Welches Leben hatten die Lehrer, die täglich entmutigt schleppenden Ganges heimgingen in ihre ärmlichen Wohnungen? Warum verbrachten

Weitere Kostenlose Bücher