Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
wirklich sympathischer Mann. Seine leuchtend blauen Augen fallen sofort auf. Sein Gesicht ist sehr männlich mit einem willensstarken Kinn …«
» Lene, du kommst ja ins Schwärmen. Magst du ihn?«
B laue Augen schauten sie innerlich an. Mochte sie ihn? Sie sah aus dem Fenster, sah die Menschen auf der Straße, das Leben hier, sah, wie die Dunkelheit langsam einfiel, genoss diesen Augenblick der völligen Entspannung. »Ja, ich glaube, ich mag ihn.«
K apitel 9
Sie gingen zu Fuß zum Hotel zurück, weil sie die Atmosphäre der Stadt aufnehmen wollten.
» Wie ging es denn nun weiter?«
» Was meinst du?« Lene schreckte aus ihren Gedanken auf.
» Na, mit der Familie in Amerika. Jetzt sind wir hier. Also muss ich es hier erfahren.«
Lene musste ihr Recht geben. So wurde alles lebendig. »Gehen wir erst mal wieder zurück zu Elise, meiner Großmutter. Über die habe ich das ja alles erfahren. Und damit du sie verstehst, ich meine, was für ein mutiger Mensch sie war, hier erst einmal meine Lieblingsgeschichte von ihr.
15. September 1892
Dorothea war eineinhalb Jahre älter als Elisabeth. Als Dorothea in die Schule kam - ein etwas verkniffenes, um Anerkennung ihrer Tüchtigkeit bemühtes Kind - wartete Elisabeth, die lebhaft und fröhlich war, ungeduldig auf das nächste Schuljahr. Sie wollte dann unbedingt auch in die Schule. Sie beneidete ihre Schwester glühend und lernte heimlich schon mit ihr Lesen und Schreiben. Sogar bei den Hausaufgaben im Rechnen setzte sie sich neben sie und ließ sich alles von der großen Schwester erklären, die stolz ihr Wissen teilte. Dann kam der große Tag näher. Es gab bittere Tränen im Hause Röthlein, weil Klein-Elisabeth nicht verstehen wollte, dass sie doch erst fünf Jahre alt war und deshalb noch nicht in die Schule konnte wie ihre Freundinnen. Am Einschulungstag hatte Lona einen Arzttermin. Voll Sorge betrachtete sie ihr zierliches, zielstrebiges Mädchen. Mitnehmen konnte sie sie nicht zum Arzt. Sie schärfte der kleinen Elisabeth ein, brav zu Hause zu bleiben. Sicherheitshalber schloss sie sie im Haus ein. Vorher hatte sie ihrer willensstarken Tochter noch das älteste Kleidchen angezogen und auch noch die Strümpfe und Schuhe versteckt.
Als Lona weg war, ö ffnete Elisabeth das Fenster auf der Rückseite des Hauses und kletterte hinaus. Stolz, es geschafft zu haben, rannte sie barfuß zur Hauptstraße – und wusste dort nicht mehr weiter. Wo war die Schule?
Sie fragte einfach einen jungen Mann nach dem Weg. Der wunderte sich ein bisschen über die Aufmachung des kleinen, offenbar recht armen Mädchens, das zum Schulanfang nicht einmal ein neues Kleid oder Schuhe bekommen hatte und ganz allein dorthin musste. Da er jedoch in die gleiche Richtung wollte, bot er ihr voll Mitgefühl an, sie dort hinzubringen. Vertrauensvoll legte Elisabeth ihre Hand in seine. Er brachte sie zur Schule – wie er Jahre später der inzwischen fast erwachsenen Elisabeth auf ihrem ersten Ball schmunzelnd erzählte, als er mit ihr tanzte.
» Was für eine mutige kleine Maus«, sagte Sophie, die gespannt zugehört hatte. »Und dann?«
» Lona hat sie schließlich in der Schule gefunden. Und das Unglaubliche ist, dass sie in der Schule blieb. Die Lehrerin ließ sie in der irrigen Annahme, dass die Fünfjährige bald die Lust verlieren würde, am Unterricht teilnehmen. Aber der Zeitpunkt kam nie. So hat sie ein Jahr früher die Schule beendet, vorher war sie sogar mit einer Sondergenehmigung des Bischofs ein Jahr zu früh mit den anderen zur Erstkommunion und später zur Firmung gegangen. Für damalige Zeiten ziemlich sensationell. «
» Eine herrliche Geschichte. Zu der Zeit als kleines Mädchen so viel Kraft aufzubringen. Und dann? Was hat sie nach der Schule gemacht?«
» 1903 ist sie, mit 16 Jahren, allein nach New York gefahren – mit dem Dampfschiff. Dreieinhalb Wochen brauchten sie von Rotterdam, wo sie Lorenz hingebracht hatte, nach New York, fast die ganze Zeit in einem schrecklichen Sturm und deshalb auch so lang. Elisabeth war vom dritten Tag an seekrank, lag in ihrer Kabine und wollte nur noch sterben. Dabei hatte sie sich so auf die Seereise gefreut und vom Tisch des Kapitäns und großen Galadinnern geträumt. Als sie dann in New York ankam, holte sie ihr Uncle Robert ab. Das war der Bruder von Lona, der Vater von Beth, die aber damals erst etwa zehn Jahre alt war. Onkel Robert sah an Elisabeth hinunter – die er gleich Elise, im Englischen ohne ›e‹ am Ende
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