Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
ausgesprochen, taufte, da er ja seine Tochter Elizabeth ›Beth‹ nannte - und starrte entsetzt auf ihr zu kurzes Kleid. Stell dir vor, die Knöchel in den Stiefelchen waren zu sehen! Das wurde erst ein paar Jahre später von der Mode erlaubt. 1903 war das völlig unmöglich. Elise lief rot an. ›Ich weiß auch nicht, meine neuen Kleider sind alle zu kurz! Ich muss gewachsen sein während ich seekrank war‹, stammelte sie.
› Na, das kriegen wir wieder hin‹, sagte er und fuhr mit ihr in die Fifth Avenue. Elise, wie sie von da an hieß, war völlig überwältigt von dem Reichtum und dem Glanz der Geschäfte dort. Und ihr Onkel ging mit ihr in die Modehäuser, die die elegantesten der Welt waren - außer denen in Paris natürlich - und kaufte ihr eine komplette neue Garderobe.«
» Herrlich! Mein Gott, das war doch noch vor der Titanic. Was für wunderschöne Kleider gab es damals.«
» Ja, etwa wie in dem Film Titanic. Aber da es noch einige Jahre früher war, waren die Stoffe nicht so fließend, sondern steifer im Material und mit viel Aufwand verarbeitet. Ein tiefer Ausschnitt, darin eingesetzt eine Art weißer Bluse, oft mit kleinen Falten, dazu ein Rüschenstehkragen. Und weite Ärmel. Die Taille ganz eng und schmal, mit einem Korsett aus Metallstäben oder Walfischgräten, fest geschnürt – ich frage mich immer, wie die Frauen das ausgehalten haben. Dazu immer drei Unterröcke. Das zumindest haben sie dann endlich kurze Zeit später doch auf einen reduziert. Wenn ich an das Foto von Elise aus einem Fotoatelier in Amerika denke, sieht es noch aufgeplustert mit dreien aus. Darunter noch Pluderhosen mit Spitze und Bändern, und Hemdchen, die unter dem Korsett getragen wurden. Und dann die Stoffe! Teuer und kostbar. Lyoner Seide, Voile, Samt, Satin, Spitze.«
» Zum Träumen schön! Sie muss sich gefühlt haben wie im Märchen. Und alles hat er neu gekauft?«
Mutter und Tochter standen jetzt vor einem eleganten Mod egeschäft in San Francisco, 100 Jahre später.
» Ja, man ›brauchte‹ als Dame, selbst als so junge Dame, damals eine bestimmte Garderobe. Besonders in den ›feinen Kreisen‹ in Philadelphia. Ein Hauskleid, ein Ausgehkleid für Spaziergänge, eins für Kutschfahrten, ein Nachmittagskleid, ein Cocktailkleid, ein Abendkleid – kurz, ein Vermögen steckte in so einer Ausstattung. Und Elise hatte stolz eine - wenn auch bei weitem nicht so luxuriöse - neue Garderobe mitgebracht. Alles umsonst.«
» Ich finde Uncle Robert beeindruckend. Wenn er auch ein bisschen übertrieben hat – so eine Garderobe für ein junges Mädchen! Er war wohl auch stolz und wollte zeigen, was er erreicht hatte. Und was ist jetzt mit Onkel Will? Das habe ich vergessen. Wer war seine Mutter?«
» Das war die dritte Tochter von Lona und Lorenz, Margarethe. Margarethe war klug und begabt. Sie war Schülerin im selben Gymnasium in Bamberg, in dem auch ich war, machte sogar das Abitur, was zu der Zeit für ein Mädchen sehr ungewöhnlich war. Sie wurde dann Volksschullehrerin in Gaustadt, dem Vorort von Bamberg, wo ihre Eltern Lona und Lorenz lebten. Das war zwar schön, aber es befriedigte sie nicht. Sie wollte nicht nur kleine Kinder unterrichten, sondern unbedingt studieren und ging deshalb an die Universität. Nach Erlangen, wo Jonas heute Lehrer ist.
Sie studierte Philologie. Und von dort, stell dir vor, 1909! als es noch kaum weibliche Studenten gab, ging sie mit einer aus sechs sonst nur männlichen Studenten bestehenden Austauschgruppe als erste weibliche Studentin für zwei Jahre nach Amerika, an die Universität von Massachusetts. Dort lernte sie in der Mensa einen Medizinstudenten kennen. Und verliebte sich in ihn. Sie, die Zielstrebige, diejenige, die doch noch so viel lernen wollte. Aber Frank wollte sie heiraten und sie ihn. «
Den Rest erzähle ich dir ein anderes Mal. Sie waren im Reden weitergegangen. Lene bemerkte, dass sie die eleganten Geschäfte hinter sich gelassen hatten und sah die vielen herumlungernden, von Drogen und Armut geprägten Gestalten. Sie sprachen über die großartige Idee des Bürgermeisters von San Francisco, der leerstehende städtische Gebäude für die Obdachlosen geöffnet hatte. Hier jedoch war eine völlig veränderte Atmosphäre. Sie wurden unruhig und beide waren froh, als sie kurz vor dem Hotel wieder in die Abendstimmung einer Großstadt mit Theatern und Restaurants eintauchten. Sie hatten das andere Gesicht Amerikas gesehen.
K apitel 10
Sophie nestelte am
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