Auf Amerika
Vermutlich hätten sie den auch noch gegen den Russen brauchen können.
Der Daumen, den die Lammermutter damals den Hühnern hingeschmissen hat, fehlte dem Sepp nicht. Für die Bässe brauchte er ihn nicht. Viele Jahre später, als der Sepp mit einem anderen Ziehharmonikaspieler auftrat, entdeckte ich, dass der Sepp die Ziehharmonika falsch herum hielt.
Wenn der Sepp zu seinem Ziehharmonikaspiel und seinem Gesang auch noch jodelte, dann hingen die jungen Frauen und die Mädchen träumerisch an seinen Lippen und hofften, dass er sie einmal mitnimmt auf seiner Horex, mit der er schon in Rom war. Sie sangen, die Frauen, die einen kräftig, laut und beherrschend, andere leise, nur die Lippen bewegend, inbrünstig, verspielt, träumend, die alten Frauen mit hohen Stimmen, wie Mädchen dasitzend, rotbackig. Dann kicherten sie, flüsterten sich Geheimnisse zu, erschauderten, bewegten sich im Rhythmus der Musik, ließen ihre Brüste wippen und ihre Hinterteile kreisen. Und jede von ihnen dachte jetzt vielleicht an einen, den sie liebte, ohne dass der Angebetete es überhaupt wusste. Wie ich die Rosa liebte, die davon auch noch nichts ahnte. Ich war glücklich an solchen Abenden und spürte irgendwie, dass es doch was Wunderbares war um die Frauen.
Meine Mutter war anders als die Frauen hier. Wenn überhaupt, dann saß sie steif da, als gehörte sie nicht dazu, als sei sie nur eine fremde Zuschauerin in einem fernen exotischen Land, wo man sich raushält, weil man das Brauchtum nicht kennt. Sie sang nicht mit, in ihren Körper schlichen sich die Rhythmen nicht ein, sie war nur körperlich anwesend. Es war nicht ihre Musik. Sie träumte von ihrer Jugend in Berlin, mit Chopin auf dem Klavier und Schubert-Liedern, mit Konzertbesuchen und Hausmusik, von der singenden Mutter und ihrem Geige spielenden Vater, von ihren Schwestern, die allesamt Instrumente gespielt haben, sie selbst Klavier unter dem strengen Lehrer Molitor. Was hier im Lammerhof für mich der erste Duft der Musik war, was mir ganz tief ins Herz ging und dort ein Leben lang seinen Platz haben würde, war ihr, weswegen sie sich oft sehr früh nach oben zurückzog, nicht sehr viel mehr als derbes Treiben, als Lärm.
48
Ein einziges Mal, an einem Sonntagabend, die Verwandten aus der Stadt waren am Nachmittag für ein paar Stunden da und es wurde Wein getrunken, und meine Mutter ist wohl etwas beschwipst, setzt sie den Schlagern des Abends plötzlich etwas entgegen: Sie singt.
Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden, war so jung und morgenschön, lief er schnell, es nah zu sehn.
Sie singt schön, mit einer hohen Stimme, etwas zittrig. Alle lauschen. Die Frauen summen mit, sie kennen ja den Text nicht. Als meine Mutter fertig ist, schlägt sie die Hände vors Gesicht, als schämte sie sich, zumal sie merkt, dass meinem Vater ihr Auftritt peinlich ist, ich weiß nicht, warum.
Man applaudiert, fordert meine Mutter auf, noch ein Lied zu singen. Sie tut es, und mein Vater geht in die Wirtschaft. Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum, singt sie, ich schnitt in seine Rinde so manchen süßen Traum.
Sie sieht schön dabei aus.
Ich bin stolz auf sie.
49
Eines Tages kam die große Stunde meiner Mutter.
Im Schuppen, der halb Werkstatt und halb Hühnerstall war, stand neben allerlei abenteuerlichem Gerümpel, das der Lammer-Sepp, ein ewiger Bastler und Sammler, im Laufe der Jahre zusammengetragen hatte, verstaubt und von Hühnerscheiße überzogen ein Flügel. Ja, tatsächlich, man fragte sich, wie er da hinkam, ein Konzertflügel, wie meine Mutter ihn nannte. Vor meiner Mutter entdeckte ich ihn. In dem rundlichen Kasten, dessen flacher Deckel wie der Flügel einer Krähe aussah und geöffnet war, saßen die Hühner. Wenn man den Staub und die Hühnerscheiße abwischte, war er ganz schwarz, glänzend schwarz. Als ich ihn das erste Mal öffnete und auf den weißen und schwarzen Tasten herumklimperte, wozu die Hühner, die ich verscheuchte, ein Mordsgezeter machten, stand plötzlich meine Mutter hinter mir. Sie starrte auf das Monstrum, beugte sich über mich, strich mit den Fingern vorsichtig, fast andächtig, über die Tasten, traute sich nicht, sie herunterzudrücken, wischte über den Tasten den Staub ab. Schimmel stand da auf der Unterseite des Deckels über den Tasten geschrieben, in goldener Schrift. Schimmel. Mein Gott, sagte sie, mein Gott, das gibt es ja nicht. Ganz und gar aufgeregt war sie und ging zum Haus hinüber.
Das Ding,
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