Auf Amerika
Abenden manchmal das halbe Dorf, denn der Lammer-Sepp, der einzige Sohn der Lammers, der den Krieg überlebt hat, der da ist, daheim, nicht tot wie der Matthias und der Hans, nicht vermisst wie der Anton. Der Sepp, der zukünftige Bauer, ein prächtiges Mannsbild, wie die Frauen sagen, ein Erfinder, ein Draufgänger, spielt auf seiner Ziehharmonika, wenn er nicht auf seiner Horex über die Dörfer zu irgendwelchen Liebschaften fährt. Liebschaften nennt das mein Vater, der ja selber in Hetzenbach drüben eine Liebschaft hat, die Wirtin von dort.
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Der Sepp spielte selbstbewusst und stolz, wie ein krähender Hahn, den Kopf leicht nach hinten gelegt, selbstsicher. Er konnte keine Noten, spielte die Stücke, wie er sie gehört hatte, im Radio, auf Volksfesten, auf dem Tanzboden. Wer singen konnte oder glaubte, singen zu können, der sang. Anneliese, ach Anneliese, warum bist du böse auf mich? Schiefe Absätz’ und in jedem Strumpf ein Loch, aber saufen, saufen, saufen tun wir doch. Und der Sepp spielte wie ein Besessener. Mal spielte er Märsche für die Männer, mal sanfte Volksweisen für die Frauen. Wo ich geh und steh, tut mir mein Herz so weh. Die Frauen dankten es dem Sepp mit mehr oder weniger sehnsüchtigen Blicken, die die Lammermutter sehr wohl bemerkte und gegebenenfalls als unschicklich einstufte. Dass sie diesen ihren letzten Sohn bekommt, das brauchte sich keine von denen einzubilden. Die Eisenrieder-Klara mit ihrem Amibankert, die brauchte sich erst recht nicht an ihn dranmachen, die, die nichts wie einen Vater suchen würde für ihren Bankert. Eine Amischicks ist sie, die. Für die ist ihr der Sepp zu gut, für die. Ein Held ist er. Auch ihn hatten sie ihr wegnehmen wollen. Fast am Ende von dem verdammten Krieg, als man ihr schon den Tod vom Matthias und vom Hans gemeldet hatte, wollten sie den Sepp und drei andere fünfzehnjährige Buben noch einziehen. Vor der Wirtschaft mussten sie sich aufstellen. Ein Mannschaftswagen und ein Kübelwagen mit Militärs waren vorgefahren, und der Ortsgruppenführer Lechner, der sich dann gleich nach dem Krieg im Glockenstuhl oben aufgehängt hat, meldete dem Offizier vier junge Burschen, angetreten, Soldaten zu werden, willens, dem Führer zu dienen, wie der Lechner betonte. Es standen da aber nur drei, der Dachser Peter, der Niedermeier Kare und der Wagner Michael, von denen keiner so aussah, als würde er begeistert gegen den Russen ziehen wollen, statt jetzt die Ernte einzufahren. Wo ist der vierte, wer ist es, wie heißt er, wo findet man ihn? Es ist der Lammer-Sepp, sagte der Lechner. Sie fanden ihn beim Lammer im Schuppen hinten in der Werkstatt, blutüberströmt, halb ohnmächtig. Er hatte sich mit der Axt den rechten Daumen abgehackt. Den rechten Daumen, wie er selber später immer betonte. Der Sepp ist Linkshänder. Sie brachten ihn in ein Krankenhaus. Seine Rechnung, die er sich gemacht hatte, ging auf. Er musste nicht mehr in den Krieg. Als er wieder hergerichtet war, war der Krieg vorbei. Die anderen drei Burschen sind gefallen. Kanonenfutter, sagte mein Vater.
Nie mehr wird die Lammermutter vergessen, wie der Lechner dastand, grinste und sagte: Den Kopf hätte er sich abschlagen müssen, Lammermutter, den Kopf. Wegen einem Daumen kommt uns keiner aus. Dann warf er den Daumen der Lammermutter vor die Füße. Der Lammer wollte sich auf ihn stürzen, was die Nachbarn verhinderten, wissend, dass sie ihn auch gleich mitgenommen hätten, denn ein paar Alte brauchten sie auch für den Krieg. Als sich der Lechner dann nach dem Krieg umbrachte, weil er sich schämte, weil keiner mehr mit ihm sprach, weil sie ihn als den Verantwortlichen für den Tod ihrer Söhne ansahen, betete die Lammermutter kein Vaterunser für sein Seelenheil, und keine Glocken läuteten, und geschossen wurde auch nicht, denn im Krieg selber war er ja nicht gewesen, der Lechner, hatte ihm ja nur an der Heimatfront auf seine Art gedient. Beim Begräbnis war niemand. Der Messner grub ihn unter der Regentraufe der Kirche ein, wo die Selbstmörder und die ungetauften Kinder hinkommen. Dass er den Herbert, den Jud, versteckt in der Scheune nicht verraten hat, das war wie ein Wunder, aber nicht dazu angetan, ihn zu bedauern. Schließlich hat man ihm sein Schweigen reichlich belohnt. Das musste genügen. Ein Hitlerischer war er, und dafür hat er sich selbst bestraft.
Der Veit hatte sich an dem Tag, als sie ihr letztes Aufgebot rekrutierten, im Heu versteckt und nicht blicken lassen.
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