Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
eine schwierige und anspruchsvolle Tätigkeit darstellt. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Betroffenen oftmals alles Mögliche probieren, um die Abschiebung zu verhindern. Das Personal muss mit Hungerstreik und Selbstverletzungen klarkommen.
Gerlindes Fall bot aus meiner Sicht keine Anhaltspunkte für eine besonders hartherzige und unmenschliche Einstellung des Personals. Sicherlich war es grob fahrlässig, den Häftling zunächst nur mit dem Defibrillator zu untersuchen und nicht gleich ins Krankenhaus einzuliefern. Andererseits hatte der Mitarbeiter ihn zwei Stunden später in die Notaufnahme gebracht. Insofern konnte ich ihm nicht unterstellen, dass er generell keinen Rettungswillen gehabt hatte. Er hätte nur die Gefährdungssituation früher erkennen müssen. Ich entschied mich daher, beim Amtsgericht den Erlass eines Strafbefehls zu beantragen, wonach der Beschuldigte zu einer Geldstrafe verurteilt werden sollte. Im Unterschied zu einer Anklage konnte Christian W. den Strafbefehl akzeptieren, es musste also nicht zwingend zur Hauptverhandlung kommen. Gerlinde war damit aber gar nicht einverstanden. Sie meinte, der Beschuldigte solle nochmals zur Vernehmung bei der Staatsanwaltschaft, also bei mir, geladen werden. Ausführlich erläuterte sie mir, wie es ihr schon gelingen werde, dessen ausländerfeindliche Einstellung zu »entlarven«. Dann könne auch eine Freiheitsstrafe in Betracht kommen. Ich war dagegen, zumal die Polizei Christian W. bereits ausführlich vernommen hatte. Auch sonst sah es mit der Beweislage in diesem Fall gar nicht so gut aus. Nach der Notoperation hatte man sich entschieden, den Häftling |139| zu entlassen. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. Die Mithäftlinge, welche die Geschehnisse mitbekommen hatten, waren inzwischen abgeschoben worden und standen somit nicht als Zeugen zur Verfügung. Die Diskussion zog sich hin. Schließlich schaltete sich Jens ein, der durch die Durchgangstür zu seinem Zimmer alles mitbekommen hatte. Jens meinte, dass es im Moment nicht die Ermittlungsverfahren von Gerlinde seien und sie es hinnehmen müsse, dass andere Staatsanwälte andere Verfahrensweisen bevorzugten. Damit war das Thema vorerst beendet. Gerlinde stapfte enttäuscht in ihr Zimmer. Dort warteten schon die beiden Schleuserverfahren auf sie. Es waren wirklich große Verfahren. Ein paar Tage zuvor war ich zufällig in ihrem Zimmer gewesen. Dort stapelten sich in den Ecken und sogar auf dem Schrank mehrere große beschriftete Kartons. Einige standen geöffnet neben ihrem Schreibtisch. Sie enthielten unzählige Aktenordner, mit denen auch die beiden Tische in dem Zimmer vollgestellt waren.
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Gerlinde kann nicht mehr
I m weiteren Verlauf des Monats Juni gab es (neben meinem viel zu kurzen Urlaub) zwei wichtige Ereignisse, die unsere Abteilung betrafen. Zum einen wurde uns eine weitere Staatsanwältin zugewiesen: Frau Eggers, die bereits kurz vor Vollendung ihres 65. Lebensjahres stand – drei Monate fehlten ihr noch zur Pensionierung. Eine sehr nette und umgängliche Kollegin, die in einer anderen Abteilung bis zur Gruppenleiterin (also rechten Hand des dortigen Leiters) aufgestiegen war. Als dieser Oberstaatsanwalt in einen anderen Bereich wechselte, bekam Frau Eggers mit der Nachfolgerin viel Ärger, was mehr oder weniger vorprogrammiert war. Vor vierzig Jahren, als Frau Eggers bei der Staatsanwaltschaft ihren Dienst antrat, war das eine Welt ohne Computer, Drucker und so weiter. Anklagen, Strafbefehlsanträge oder Verfahrenseinstellungen tippte man auf der Schreibmaschine, machte Durchschläge mit Blaupapier und korrigierte Rechtschreibfehler mit Tipp-Ex. Das war alles deutlich zeitaufwändiger als heute, wo man Masken im Computer abspeichern, Fehler schnell korrigieren und Schriftsätze ausdrucken kann. Gerlinde (die auch schon seit ungefähr dreißig Jahren bei der Staatsanwaltschaft war) erzählte, dass sie anfangs mal wegen achtunddreißig offenen Verfahren zum Hauptabteilungsleiter zitiert worden war. Das sei damals sehr viel gewesen.
|141| Heutzutage waren aber hundert und mehr offene Verfahren in dem Dezernat eines Staatsanwalts normal, und ohne technische Hilfsmittel waren die hohen Eingangszahlen schlichtweg nicht mehr zu bewältigen. Frau Eggers war es nie gelungen, sich die Benutzung von moderner Technik anzueignen. Woran es genau lag, wussten wir nicht. Jedenfalls tippte sie nach wie vor ihre Schriftsätze auf ihrer eigenen alten Reiseschreibmaschine und machte
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