Auf Bewährung
wusste Roy. Wie oft hatte er sich schon vertippt oder auf das falsche Icon geklickt? Wäre es wichtig gewesen, hätte Diane ihm mit Sicherheit noch eine zweite, vollständige Mail geschickt oder ihn angerufen. Er schaute auf sein Handy. Keine Nachrichten von ihr. Dann ging Roy auch noch die Anruferliste durch für den Fall, dass Diane ihn angerufen, aber nicht auf die Mailbox gesprochen hatte, doch auch da war nichts von ihr zu sehen.
A –?
Auf Anhieb klingelte da nichts bei ihm. Sollte damit ein Mandant gemeint sein, kämen Gott weiß wie viele in Frage. Roy rief die Mandantenliste auf und zählte. Sie hatten achtundzwanzig Mandanten, deren Privat- oder Firmenname mit A begann. Und bei elf von denen hatten er und Diane regelmäßig zusammengearbeitet. Auch hatten sie viele Mandanten im Nahen Osten, und da hieß alles al -Dies und al -Das. Oder meinte sie vielleicht einen anderen Anwalt in der Kanzlei? Es gab fast fünfzig hier und noch einmal zweiundzwanzig im Ausland. Roy kannte alle in D. C. persönlich. Rasch ging er sie im Kopf durch, und es gab insgesamt zehn, deren Vor- oder Nachname mit einem A begann: Alice, Adam, Abernathy, Aikens ...
Roy wusste, dass die Polizei Dianes Computer sichergestellt hatte; also hatten sie sicher auch diese Mail. Trotzdem ... Ob er sie wohl anrufen und ihnen sagen sollte, was er gefunden hatte?
Vielleicht würden sie mir ja nicht glauben.
Und zum ersten Mal wusste Roy, wie sich seine Mandanten gefühlt hatten, als er noch als Strafverteidiger tätig gewesen war. Er verließ sein Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten. Er wollte sich einfach nur ein wenig am Fluss die Füße vertreten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Im vierten Stock öffnete sich die Tür, und der Lärm von Kreissägen und Hämmern brach über ihn herein. Ein älterer Mann in Arbeitshose und mit weißem T-Shirt stieg zu ihm in den Aufzug.
Der vierte Stock wurde gerade für einen neuen Mieter von Grund auf renoviert, und die anderen Mieter zählten die Stunden, bis es so weit war, denn das Ganze war mit viel Lärm und Dreck verbunden.
»Wie geht’s voran?«, fragte Roy den Mann, der eine zusammengerollte Bauzeichnung unter dem Arm trug.
»Langsamer, als uns lieb ist. Zu viele Probleme.«
»Arbeiter kommen zu spät oder gar nicht? Baugenehmigungen verzögern sich?«
»Das und die Tatsache, dass immer wieder Sachen verschwinden.«
»Verschwinden? Was denn zum Beispiel?«
»Werkzeuge, Essen ... Ich dachte, dieses Gebäude sei sicher.«
»Nun ja, der Wachmann am Empfang ist eigentlich ziemlich nutzlos.«
»Ich habe gehört, dass hier eine Anwältin ermordet worden sei. Stimmt das?«
»Ich fürchte, ja.«
Kapitel 23
R oy ging am Flussufer entlang und blieb schließlich an einer der Anlegestellen stehen, wo ein vierzig Fuß langes Kajütboot festgemacht hatte. Wie wäre es wohl, fragte er sich, auf einem Boot zu leben und einfach immer weiterzufahren? Wie wäre es, Tag für Tag den Sonnenuntergang zu beobachten und schwimmen zu gehen, wann immer man wollte? Die Welt zu sehen ...? Roy kannte seine Heimatstadt, und er hatte in D. C. sowie in Charlottesville gewohnt. Er hatte schon viele Städte gesehen, doch nur um dort ein paar Basketbälle zu versenken und dann weiterzuziehen. Er hatte den Atlantik und den Pazifik aus vierzigtausend Fuß Höhe gesehen, vor dem Big Ben gestanden und im Sand des Nahen Ostens. Das war’s aber auch schon.
Roy roch ihn, bevor er ihn sah.
Er drehte sich um, die Hand schon in der Tasche.
»Hey, Captain.«
»Roy.« Der Mann salutierte knapp.
Der Captain war Ende fünfzig und genauso groß wie Roy. Doch während Roy schlank war, war der Captain wie ein Footballspieler gebaut. Er hatte mindestens achtzig Pfund mehr auf den Rippen. Einst waren das alles Muskeln gewesen – davon war Roy überzeugt –, doch das Leben auf der Straße hatte dafür gesorgt, dass die einst so beeindruckende Physis inzwischen größtenteils aus Fett bestand. Der Bauch des Captains war so geschwollen, dass er die unteren drei Knöpfe seines Jacketts nicht mehr benutzen konnte. Und sein Körper hatte sich stark nach links geneigt, wie vermutlich die Wirbelsäule auch. Wenn man nur aus Mülleimern aß und auf Beton schlief, konnte das schon mal passieren.
Roy nannte ihn den Captain wegen der Abzeichen auf seinem Jackett. Soweit Roy wusste, war der Captain früher einmal ein Army Ranger gewesen und hatte sich in Vietnam ausgezeichnet. Doch nach seiner Rückkehr war es nicht mehr ganz
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