Auf Bewährung
Schützen überzeugt hatte, hatte sie herausgefunden, dass die letzte Kugel des Mannes einen zehnjährigen Jungen getötet hatte, der sich den Karton mit seinen neuen Basketballschuhen an die Brust gedrückt hatte.
Die anderen acht Leute vor dem Laden, einschließlich der Mutter des Jungen, waren durch Beths schnelles Eingreifen gerettet worden. Die Stadt hatte sie als Heldin gefeiert. Doch sie war an jenem Abend nach Hause gefahren und hatte bis Sonnenaufgang geweint. Sie war die Einzige, die die Wahrheit kannte. Sie hatte gezögert, bevor sie geschossen hatte, und bis zum heutigen Tag wusste sie nicht wirklich, warum. Zivilisten konnten nie verstehen, was einem Cop durch den Kopf ging, bevor er den Abzug drückte.
Werde ich heute sterben? Werde ich verklagt? Werde ich meinen Job verlieren? Werde ich treffen?
Es waren nur knapp zwei Sekunden vergangen, bevor sie dieses Albtraumszenario beendet hatte. Doch diese zwei Sekunden hatten dem Täter gereicht, um noch eine Kugel abzufeuern – die tödliche.
An ein Bild erinnerte Beth sich besonders lebhaft: der Schuhkarton im Blut des Zehnjährigen. Nachdem sie den Notarzt gerufen hatte, hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um den kleinen Jungen wieder zurückzuholen. Sie versuchte, die Blutung zu stoppen, indem sie ihre Jacke auf die Wunde drückte. Sie beatmete ihn, so gut sie konnte, und sie massierte seine kleine Brust, bis sie das Gefühl hatte, ihre Arme würden abfallen. Aber sie wusste, dass er tot war. Die Augen waren leer. Die Mutter schrie. Alles geschah wie in Zeitlupe. Beth wartete auf den Rettungswagen. Die Sanitäter erklärten den Jungen für tot. Dann waren da all die anderen Uniformen, der Captain, der Bezirkskommandeur und schließlich auch der Chief persönlich. Es war die längste Wartezeit ihres Lebens gewesen, und doch hatte all das kaum zehn Minuten gedauert.
Beth spürte noch immer die schwere, tröstende Hand des Chiefs auf ihrer zitternden Schulter. Er sagte all die richtigen Dinge, und doch sah Beth nur diese leeren Augen. Zehn Jahre alt. Tot. Zwei Sekunden Zögern. Mehr war nicht nötig gewesen. Zweimal blinzeln. Offensichtlich entschied das darüber, ob man nach Hause fuhr und in seinen neuen Schuhen ein paar Körbe warf oder ob man in die Leichenhalle gekarrt wurde, um sich dort den Brustkorb aufbrechen zu lassen.
Ein weiteres Verbrechen für die Statistik. Nur dass es eben nicht einfach nur Statistik war. Sein Name war Rodney Hawks. Beth hatte ein Foto von ihm, das ihn im vierten Schuljahr zeigte. Es stand in ihrem Büro auf dem Regal. Beth schaute es sich jeden Tag an. Es ermahnte sie, sich stets zu bemühen und nie etwas dem Zufall zu überlassen. Es ermahnte sie, nie wieder zu zögern, wenn der Hahn gespannt war und sie ein Ziel im Visier hatte, das getötet werden musste.
Das Schuhgeschäft gab es nicht mehr. Jetzt war dort ein Schnapsladen. Aber für Beth würde es immer der Ort sein, wo sie Rodney Hawks hatte sterben lassen. Wo Beth Perry die Unfehlbare versagt hatte. Und aufgrund dieses Versagens hatte ein kleiner Junge sein Leben verloren.
Beth atmete tief durch und verdrängte die Bilder aus ihrem Kopf. Dann schaute sie auf ihre Notizen und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Hatte der obdachlose Veteran die Powerfrau vergewaltigt und ihr dann hart genug auf den Hals getreten, um den Hirnstamm zu durchtrennen? Und hatte er sie dann in den Kühlschrank gestopft und einfach weitergemacht, als wäre nichts geschehen? Der Schmutz auf ihren Kleidern und die Faserspuren, die man am Tatort gesichert hatte, passten zu dem, was man auf Dockerys Kleidung gefunden hatte. Doch das war nicht wirklich von Bedeutung. DNA war besser als jeder Fingerabdruck. Und DNA von einer Spermaprobe war der Jackpot, besonders wenn dieses Sperma in einer Frau gefunden wurde. Das, zusammengenommen mit den Hämatomen im Genitalbereich der Frau, konnte kein Strafverteidiger der Welt wegdiskutieren.
Beth legte die Akte beiseite, griff nach dem Telefon und rief ihre Schwester an. Es hob niemand ab; also hinterließ Beth eine Nachricht, um Mace wissen zu lassen, dass sie die Ergebnisse der DNA-Untersuchung bald haben würden. Stimmten beide Proben überein, würde Lou Dockery den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Beth dachte darüber nach, wie Mace durch Dockerys Verurteilung ihren alten Job zurückbekommen würde. Auch wenn Mona ihnen immer wieder Knüppel zwischen die Beine warf, falls sie die Leute überzeugen konnten ... Beth
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