Auf Couchtour
kürzlich Vermählter oder frischgebackener Eltern anschauen, begleitet von tiefen Seufzern meiner Mutter. Die meisten der Leute kenne ich überhaupt nicht und meine Mutter noch viel weniger, was sie aber nie zugeben würde. Um es hinter mich zu bringen, werde ich so tun, als nähme ich ihr all die fadenscheinigen Bezüge, die sie zwischen mir und diesen mir völlig fremden Personen spinnt, ab.
Ein Beispiel: »Der Bruder von dem Stefan Bauer hat doch mit der Monika Seibert aus der Kufenstraße ein uneheliches Kind, die Bettina. Dem armen Mädchen wurde mit acht Jahren eine künstliche Hüfte eingesetzt, und zwar in dem Krankenhaus, in dem ich dich entbunden habe. Zeitgleich. Sie lag auf Station fünf, eine Etage unter uns. Jetzt sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr an die Bettina?«
Doch, natürlich, Neugeborene erinnern sich an alles, da kann man ruhig 35 Jahre später nachfragen – kein Thema. Sie will mich damit nicht verletzen, sie ist meine Mutter und will mein Bestes. Es ist ihre Art, mir Mut zu machen. Wenn selbst die vom Schicksal zum Krüppel geschlagene Bettina einen Mann findet und Kinder gebärt, gibt es sogar für mich noch ein Fünkchen Hoffnung. »Auch ein dickes Huhn findet mal ein Korn!«, wird meine Mutter resümieren und mir zuversichtlich dabei den Rücken tätscheln. Ich werde wie jedes Mal sagen: »Es heißt blindes Huhn, Mutti, … auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn!« und zu ihrer Antwort synchron die Lippen bewegen: »Ja, ja, Kind. Mit ein paar Pfund weniger hättest du es leichter. Männer achten auf die Figur. Stimmt’s, Karl-Heinz«? Mein Vater würde nie widersprechen und dazu nicken, glauben Sie mir.
Warum ich Ihnen das erzähle? Nun, ich finde, jeder trägt ein Stück seiner Eltern in sich. Man will niemals so werden wie sie, aber dennoch geben sie die Richtung vor, in die wir uns entwickeln. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns an ihrem Vorbild orientieren oder den entgegengesetzten Kurs einschlagen. Wir werden von ihnen geprägt. Dieser Tatsache kann sich niemand entziehen.
Ich drücke mir die Daumen, dass Jürgen am Sonntag ausnahmsweise mal nicht zum Laune versauenden Gesprächsstoff wird. Meine Mutter liegt mir seit unserer Trennung mit Schuldzuweisungen in den Ohren. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen und so weiter. Der Jürgen sei schließlich ein ganz schicker, feiner Mann. Schick stimmt, aber bei fein lege ich ein Veto ein – warum, wissen Sie bereits.
Da ich leider nur zwei Daumen zum Drücken habe, stehen die Chancen schlecht. Dabei haben wir wirklich Wichtiges zu besprechen. Vielleicht kann ich die beiden ja mit meiner Begeisterung für meinen Plan vom Thema Jürgen ablenken …
Frotteeträume
Wie Sie sehen, ist mein Leben alles andere als außergewöhnlich. Ich manövriere mich genauso gut oder schlecht durch den Alltag wie die meisten Menschen. Es gibt Tage, sogar Wochen und Monate, die verstreichen, ohne dass irgendetwas Nennenswertes passiert. Es ist erschreckend, die Tage, die man bereits gelebt hat, denen, an die man sich erinnert, gegenüberzustellen. Zieht man dann noch die schlechten Erfahrungen ab, bleibt eine verschwindend geringe Summe von positiven Erlebnissen übrig, die wir uns ins Gedächtnis rufen können. Wir vegetieren oftmals als Statisten in unserem eigenen Film dahin, dabei sollten wir doch eigentlich Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller sein, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde – es ist schließlich unser Leben.
Ich betrachte meine Träume als Ausgleich. So wie jemand, der den ganzen Tag herumsitzt, sich abends gerne bewegen möchte oder umgekehrt. Ich gleiche Mängel des realen Lebens im Schlaf aus. Momentan fehlt es mir an Liebe, Action und einer neuen beruflichen Perspektive. Ich stecke in meiner Unzufriedenheit fest und brauche dringend ein Erlebnis, das mir neue Energie verschafft, um aktiv zu werden. Ich will das Ruder wieder in die Hand nehmen. Tatenlos treiben lassen habe ich mich lange genug. Die Zeit ist überreif für eine verdammt gute Couchtour.
Wir leben nun mal in der Realität und es ist unabdingbar, hier zurechtzukommen. Jeder auf seine Weise. Sich kleiner Tricks zu bedienen, finde ich nicht verwerflich. Bedenklicher ist es, Zeit seines Lebens darauf zu hoffen und zu warten, dass etwas Außergewöhnliches passiert. Es wäre mir ein Leichtes, Ihnen meine Couchtour als wirkliches Erlebnis zu verkaufen. Wie schon gesagt, ich bin eine exzellente Lügnerin. Doch dann würde ich genau diese
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