Auf Couchtour
dreisten Appell. Du ließt dich erweichen und hast sie vorgelassen. Zum Dank rief die Mutter: ›Ella, Birgit, Regina, Tamara, wir sind dran – bringt die Oma auch mit.‹ So. Plötzlich standen wir am Ende der Schlange. Frau Großherzig! Du bist echt auf den ältesten Trick der Welt reingefallen. Die Mutti und Klein-Susi durften zusammen rein, die restlichen Bälger schön hintereinander weg, in aller Ruhe. Das waren hundertprozentig nicht alles ihre, sondern die komplette Brut befreundeter Pärchen, die sie als Zur-Toilette-Begleiterin abkommandiert hatten. Die Oma machte, glaube ich, erst mal ein Nickerchen oder grub sich einen Tunnel durch den Estrich. In der Zeit, die sie zum Entleeren brauchte, fliegen andere zum Mond.«
»Woher sollte ich das wissen?«
»Instinkt nennt man so was. Außerdem gilt auch für Freundlichkeit: adäquate Dosierung. Alles, was man im Übermaß austeilt oder einsteckt, schadet. Nehmen wir das Beispiel Alkohol, ein bisschen macht fröhlich, zu viel krank. Du kannst das auf alles anwenden, es passt immer.«
»Ja, ja. Schon gut. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?«
»Dem Mädchen Mut zusprechen, es darin bestärken durchzuhalten, ihren Schmerz als wertvollen Beitrag zu ihrer persönlichen Entwicklung anzunehmen.«
»Schon klar.«
»Keine Ahnung, bestimmt hätte es da einen gesunden Mittelweg gegeben. Darüber brauchen wir aber nicht nachzudenken. Du hast dich für den falschen entschieden.«
»Blödbröd.«
»Wir sollten dringend in die Halle zurückkehren, mein Liebchen, sonst verpasst du deine Befragung. Da wartet schon ein gewisser Officer Aaron Steel darauf, dich kennenzulernen.« Ich kann es mir nicht verkneifen, Charline ein paar Luftküsse zuzuschmatzen. Sie schmettert sie alle mit den Worten ab: »Nun mach, bringen wir es hinter uns.«
»Wir setzten uns an den Tisch zu einem Trupp Rechtsanwälte, die, wie wir erfuhren, eine England-Schottland-Tour mit abschließendem Golfturnier in St. Andrews gebucht hatten. Heute war ihr erster und einziger Tag in London. Die für den Vormittag geplante Stadtrundfahrt fiel aus. Es war schon nach elf. Die Enttäuschung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Wir hätten vielleicht sogar im selben Doppeldecker gesessen, weil unsere Tour ebenfalls für den späten Vormittag gebucht war. Schicksal, was nich’ is’, is’ nich’. Die Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen begannen bei N wie Nöllemann und endeten bei Z wie Zorrobas. Herr Zorrobas war zweifellos der Verlierer des Tages. Die anderen würden auf ihn warten müssen und ihn ihren Ärger darüber spüren lassen. Die Z-ler sind immer die Schlusslichter. Ob in der Geburtenliste eines Krankenhauses oder nach ihrem Tod im Kirchenbuch. Ihr Platz ist hinten, ganz hinten. Diesen Menschen wird mit ihrem ersten Atemzug jegliche Motivation genommen, es im Leben bis an die Spitze zu bringen, weil das Z sie immer wieder ans bittere Ende versetzt. Es ist ein Fluch, der das ganze Leben an ihnen haftet – ewig der Letzte zu sein. Wer pfiffig ist, heiratet in die A-Riege ein und bemächtigt sich so eines Namens, der mehr Erfolg verspricht. Wäre ich ein Z-ler, würde ich meinen Partner im Telefonbuch suchen. Herr Zorrobas gehörte anscheinend nicht zu der schlauen Sorte. Er wusste um seine Position und suchte den Blickkontakt mit seinen Kollegen. Mit schuldbewusster Miene heischte er um ihr Verständnis – vergebens.
Tja, das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert, und so kamen die Bs an die Reihe. Madame Tussauds als Nachmittagsausflug hing für die Anwälte noch in der Schwebe. Der eine, der mit dem Zwirbelbart dir gegenüber, entschied für sich, auf Herrn Zorrobas als Reisegefährten zu verzichten. Er würde sich vom Acker machen, sobald die N-Befragung durch war. Er zupfte an seinem gewachsten Schnäuzer und sann nach Argumenten, die die anderen überzeugen würden mitzuziehen. Verräter durchschaut man meist, bevor sie sich zu erkennen geben. Sie strahlen so etwas Tückisches aus. Der hier trug Niedertracht als Maßjackett. Unter Anwälten nach Verrätern zu suchen ist, als würde man in einen Sack Kartoffeln greifen – man holt immer eine Kartoffel raus. Der Zwirbel-Judas hatte übrigens ein Auge auf dich geworfen. Ich schätzte ihn so auf Ende dreißig. Ein gepflegter Mann mit sündhaft teurer Designerbrille. Er erkannte in dir so etwas wie eine modisch gleich orientierte Seelenverwandte. Ich fand ihn borniert. Ein gepflegtes Äußeres ist die Basis für Attraktivität, aber der
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