Auf Couchtour
Europas.« Ich halte Charline den Reiseführer unter die Nase und zeige ihr die Bilder. »Hier sind wir. Stell dir vor, wir müssten da alleine rumstrolchen und uns unseren Weg suchen. Wir können froh sein, dass uns das erspart geblieben ist.«
»Wieso, da sind doch überall Hinweisschilder und Infostände.«
»Natürlich, aber kein Schild auf dem steht: ›Charline und Rita, bitte hier entlang‹. Schilder sind doch für alle Menschen. Nee, nee, das hätte uns Landeier maßlos überfordert. Wir wären wahrscheinlich bis zum Abflug in den Hallen im Kreis gelaufen. Da lob ich mir doch eine persönliche, attraktive Eskorte, so, wie ich sie mir für uns ausgedacht habe.«
»Oh, ja.«
»Pass auf, wir beide im Bus.«
»Letzte Reihe?«
»Wo sonst. Unser Stammplatz, wie früher. Du in der Mitte, ich links daneben. Einziger Unterschied: Es gab keine Jungs zum Angucken, und alle stiegen auf einmal ein. Die Luft war zum Schneiden dick. Du mochtest dich nicht hinten anlehnen, weil deine Rückenlehne so speckig aussah. Zwei Leute wollten mit auf die Bank, neben uns.«
»Früher hätten wir das gemeine Volk nicht reinrutschen lassen.«
»Heute schon, mussten wir ja. Die Gesichter der beiden sagten mir nichts. Inder? Auf keinen Fall Dänen.«
»Du immer mit deinen Dänen!«
»Man sollte die Dänen auch mal erwähnen. Reimt sich sogar. Der eine trug einen Turban, der so hoch war, dass die Frisur von Marge Simpson darunter gepasst hätte.«
»Oder eine Schlange.«
»Von mir aus auch zehn und für jede ein Frühstücks-Kaninchen, genug Platz hätten die gehabt.«
»Saß der Busfahrer rechts?«
»Ich glaube schon, oder? Ich kann mich nicht erinnern – ist ja auch unerheblich. Er hatte jedenfalls Ähnlichkeit mit Läuse-Dieter. Vielleicht war er es sogar. Unser Busfahrer, damals in der Grundschule. Erinnerst du dich? Dieter Koslowski. Der ist jetzt sicherlich schon pensioniert. Es war im Hochsommer, im Juli, kurz vor den Ferien, als du ihm den Namen verpasst hast. Wir wurden, wie jedes halbe Jahr, auf Läuse untersucht. Du hattest welche. Die Lehrer schickten dich nach Hause. Du hast so geflennt, dass sie mich gebeten haben, dich zu begleiten. Damit die Biester nicht auf mich überspringen, solltest du deine Verkehrsmütze aufsetzen, dieses lächerliche orange Strick-Ding mit dem Bommel obendrauf. Beim Einsteigen machte sich Läuse-Dieter darüber lustig, dass du bei den Temperaturen eine Mütze trugst. Ohne unsere Erklärung abzuwarten, riss er sie dir runter, setzte sie sich auf den Kopf und spielte den Kasper. Was ihn dazu veranlasste, weiß ich bis heute nicht. Ich schrie: ›Sie hat Läuse!‹ Dann sahen wir deine Mütze aus dem Bus fliegen, im hohen Bogen, bis sie aus unserem Blickfeld verschwand. Wir haben sie nie wiedergefunden.« Charline lacht.
»Sie ist bestimmt im Bodensee ertrunken.«
»Bei dem Schwung? Im Pazifischen Ozean!«
»Er hasste uns dafür.«
»Wie die Pest. Ich glaube, er fand Kinder grundsätzlich furchtbar. Fakt ist, uns hat er nie wieder geärgert.«
»Ich habe mich damals wahnsinnig geschämt. Die anderen Kinder zogen mich wochenlang damit auf. Vor allem Brigitte.«
»Brigitte ist heute fett, arm und frustriert. Du bist eindeutig die, die zuletzt lacht.«
»Stimmt.« Sehe ich da etwa ein gehässiges Blitzen in Charlines Augen? Oh, ja. Ich gönne ihr den Triumph. Dass ich neulich gehört habe, Brigitte habe abgenommen, sich liften lassen und einen fast toten Millionär geheiratet, behalte ich für mich.
»Der Bus brachte uns zu einer Halle. Abermals erwartete uns ein Aufgebot an Polizei. Wir stiegen ein paar Stufen rauf ins Gebäude und wurden durch einen fensterlosen Flur in einen Saal gelotst. Hier passten locker hundert Leute rein. Auf den Tischen standen Wasserflaschen und Gläser. Es würde also länger dauern. Der Trupp vor uns hatte sich in Grüppchen aufgeteilt. Alle standen herum, lamentierten und diskutierten. Ein junger Schnösel im Anzug stapfte etwas abseits auf und ab. Er raufte sich die Haare und führte Selbstgespräche, wegen eines Geschäfts, das ihm angeblich durch die Lappen ginge. Eine ältere Dame weinte und musste sich ihre Tränen mit ihrem Ärmel trocknen, weil ihre Taschentücher beschlagnahmt worden waren. Wir suchten in der Menge nach bekannten Gesichtern. Die tauchten erst mit der dritten Fuhre auf: die Frau aus dem Mittelgang neben uns, mit dem verstauchten Stinkfuß, und der Mann, der so ungeduldig vor der Toilette auf uns gewartet hatte. An mehr konnten
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