Auf das Leben
ihr ein Taschentuch anbieten soll. Ich frage mich, ob ich ihr meines geben soll.
Es kostet mich einige Mühe, das normale Procedere fortzusetzen. Draußen scheint die Sonne. Auf meinem Tisch sind Papiere gestapelt. Zeit - gegenwärtige Zeit - wird noch immer von der Uhr an der Wand angezeigt. Wenigstens bewegt sich der Sekundenzeiger. Besprechen wir also die Gegenwart. Füllen wir ein Formular aus. Besprechen wir, welche Bücher zu lesen sind, welche Gottesdienste zu besuchen. Schauen wir, was sich aus dem Leben dieser Frau machen lässt, hier und jetzt. Schauen wir, ob jüdisch zu sein wirklich das ist, was sie will, schauen wir, ob die Gemeinde sie akzeptieren kann. Es beginnt also eine Probezeit. Für alle. Sie versteht. Sie nimmt die Papiere. Sie bedankt sich bei mir. Sie erhebt sich. Sie geht.
Ich habe nicht gelacht. Ich habe sie nicht hinausgeworfen. Ich habe sie ernst genommen. Warum?
Sie ist wohl schon seit einer guten Stunde gegangen, als mir klar wird, dass seit geschlagenen zehn Minuten, wenn nicht länger, eine Frage an mir nagt. Eine dumme Frage, die weder sie noch ich und wahrscheinlich nie jemand beantworten kann. Aber die Frage brennt weiter.
Wo ist jenes andere Kind? Wo ist es jetzt?
Besessen
Der Dibbuk war. Oder vielmehr: Er ist. Sie haben richtig gelesen. Man mag es nicht glauben, aber es ist so. Der Dibbuk war und ist gleichzeitig. Wo? Das ist schwer zu sagen. Hier? Dort? Irgendwo? Wer kann, wer wagt es überhaupt, das sagen?
Ich kann nicht beschreiben, was ich sah, deswegen mache ich es nicht. Ich will nicht das Spiel spielen, das Schriftsteller so gerne spielen, um zu zeigen, wie klug sie sind. Ich quäle sie nicht mit Beschreibungen, Metaphern und Gleichnissen, um zu berichten, wie der Dibbuk ausgesehen hat, wie groß er war oder welche Farbe er hatte; wie er sprach oder wie seine Stimme klang. Nichts dergleichen hat Gültigkeit. Nicht in den anderen Dimensionen. Der Dibbuk war. Er hat existiert. Er war einfach da. Wo immer ich war, war er auch - irgendwie. Ich fühlte ihn mehr, als dass ich ihn sah; ich spürte ihn mehr, als dass ich ihn hörte. Er war. Ohne Adjektive. Einfach als Substantiv. Ohne Artikel oder Geschlecht.
Wir sprachen miteinander - wenn man das so sagen kann. Wir kommunizierten. Tauschten Ideen und Meinungen aus.
Ich sprach als Erster. Warum bist du hier?, fragte ich. Weil ich bin, antwortete er. - Ich benutze keine Anführungszeichen, denn wir sprachen, ohne zu sprechen. So, wie man es tun muss , mit einem Dibbuk.
Weil ich bin? Das ist keine Antwort.
Eine andere Antwort wirst du nicht bekommen.
Ich verlange mehr.
Du darfst nichts von mir verlangen, du bist auch gar nicht in der Position, etwas von mir zu verlangen.
Ich verlange es in Marks Namen. Du hast ihn besetzt. Er möchte aber nicht besessen sein. Er hat mich gebeten, ihm zu helfen.
Ich weiß.
Also, warum hast du von ihm Besitz ergriffen? Warum bist du in ihn gefahren? Was willst du?
Es gab eine Pause. Wie lange, wer kann das sagen? Für Dibbuks ist die Zeit anders. Sie haben alle Zeit der Welt. Dieser Welt, der vergangenen Welt und der kommenden Welt. Alle Zeit. Aber es war eine Pause, die endete.
Er rief mich, sagte der Dibbuk. Er rief mich, und ich kam. Warum sollte ich jetzt gehen?
Er wollte dich nicht rufen, sagte ich. Es war ein Versehen. Er war jung. Jung und dumm. Und jetzt ist er älter und möchte, dass du ihn verlässt.
Jetzt ist er alt und dumm. Warum glaubt er, dass es etwas nützen würde, dich um Hilfe zu bitten?
Weil ich sein Rabbi bin. Er hat mir seine Geschichte erzählt. Von der Party. Von den Drogen und der Séance, von den Karten, von dem Spiel, von der ganzen Spinnerei. Aber damals war er jung. Er wusste nicht, was passieren würde. Oder wie lange es dauern würde.
Das stimmt. Ich erinnere mich genau. Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich sogar an das Mädchen, das ihm gegenübersaß und das er unbedingt beeindrucken wollte. Er wollte mich missbrauchen. Er wollte ihr zeigen, wie mächtig er war, wie mutig. Wie dumm er war. Wie bereit er doch war, mit etwas zu spielen, das er nicht verstand. Er wollte zwischen ihren Beine liegen. Ich war nur das Werkzeug dazu. Aber jetzt ist er mein Werkzeug, und ich mache mit ihm, was ich will. Das Mädchen war auch dumm. Aber er hat mich gerufen.
Jetzt bittet er dich, ihn zu verlassen.
Er bittet mich? Er sollte mich anflehen !
Würde das helfen?
Vielleicht.
Wie sollte er dich anflehen? Ich
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