Auf das Leben
Rabbenu‹ genannt?«
Das war nicht die Art Frage, die man erwartet hatte, und die kleine Gemeinde rutschte unruhig auf den Sitzen herum. Ausnahmslos alle - auch die beiden, die vom Vorstand bezahlt wurden, damit sie auf den Stühlen der Vorstandsmitglieder saßen, damit diese wiederum am heiligen Schabbat ihren Geschäften nachgehen konnten. Rabbi Mordechai lehnte diesen Brauch ab, konnte ihn jedoch nicht verhindern, da ein Brauch immer ernster genommen wird als der Rabbi.
»Lasst mich anders fragen«, fuhr der weise Rabbi fort. »Warum bezeichnet ihn die Heilige Tora nicht als Mosche ha-Chacham, Mosche, den weisen Mann? Oder als Mosche, unseren König, oder Mosche, unseren Prinzen, oder Mosche, unseren Richter, oder als Mosche, unseren Held, oder Mosche, den Zaddik, unseren Gerechten? Warum wird die Bezeichnung ›Rabbenu‹, also ›unser Rabbi‹, für diesen Mann benutzt, der ein treuer Diener seines Herren war und der Gott von Angesicht gesehen hat, wie die Tora sagt?«
Den Gesichtern der treuen (und der für ihre Treue bezahlten) Gemeindemitglieder war schmerzhaft deutlich anzusehen, dass sie keine Ahnung hatten. Deshalb fuhr er fort: »Mosche ist der Prototyp des Rabbiners. Und warum? Betrachtet es einmal so: Er diente dem Volk Israel vierzig Jahre lang in der Wüste. Das Volk aber war undankbar. Es beklagte sich ständig über ihn und versuchte, gegen ihn zu rebellieren und seine Autorität zu untergraben. Sie gehorchten ihm fast nie, ohne vorher mit ihm zu streiten. Als er ihnen kurz den Rücken kehrte, nahmen sie an, er sei tot und begannen, falsche Götter anzubeten. Von seinem Arbeitgeber bekam Mosche nichts als widersprüchliche Befehle und Ärger. Irgendwann in dieser Zeit zerbrach auch seine Ehe, weil er seine Frau Zippora nach der Begegnung mit Jethro nicht mehr wiedersah, und er erwähnte seine Söhne Gerschom und Elieser nie mehr. Mosche vererbte seine Autorität nicht an sie, im Gegensatz zu Aaron, dem Priester, dem es zumindest gelang, seine Autorität auf seine beiden überlebenden Söhne zu übertragen. Mosche erntete übermäßige Kritik für einen kleinen Fehler, den er am Felsen beging. Am Ende seiner Karriere bekam er keine Pension, sondern ging fort, um allein in der Wüste zu sterben. Das Volk trauerte und jammerte dreißig Tage, dann vergaß es ihn und das meiste von dem, was Mosche versucht hatte, ihnen beizubringen. Das einzige Buch, das er schrieb, wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht, und er erhielt nie auch nur einen Schekel Honorar dafür. Aus diesen Gründen wird Mosche ›Mosche Rabbenu‹ genannt, denn er ist wahrlich seit jeher der Prototyp für alle, die versucht haben, das jüdische Volk zu leiten und ihm zu dienen.«
Es war eine kurze Predigt, aber sie hatte es in sich. Rabbi Mordechai verbrachte daraufhin die nächsten beiden Jahre damit, nach einer neuen Arbeitsstelle zu suchen, bevor er schließlich zum Katholizismus übertrat, sich im Kloster St. Stanislaw niederließ und antisemitische Traktate schrieb. Die Kultusgemeinde von Unprynwnzbl wiederum benötigte drei weitere Jahre, um einen Kantor zu finden, der, weil er Analphabet war, nicht die Zeitungsberichte über den Skandal mit Rabbi Mordechai hatte lesen können und vermutlich keinerlei Probleme als Intellektueller verursachen würde. Und so wurden alle auf ihre Weise glücklich.
IV
Lieben
Lutz
Der kleine Lutz war ein einfacher Mann und nicht besonders helle. Er trödelte in der Nachbarschaft herum, lächelte jeden freundlich an und sprach wenig. Er war ein regelmäßiger Gottesdienstbesucher, weil seine winzige Frau ihn immer mitnahm. Eva sang im Chor, seit Jahrzehnten, und niemand brachte es übers Herz, ihr zu sagen, dass sie nicht mehr singen könne und dass ihre zittrige Stimme dem Glanz und der Ehre der Liturgie wenig nütze. Aber das war egal. Eva war seit Jahrzehnten, also schon lange vor meiner Zeit, eine feste Institution im Chor. Und sie brachte Lutz mit, der immer ganz allein in der vorletzten Reihe saß und vor sich hinlächelte. Er hatte nie ein Buch vor sich, und er beteiligte sich nie, er saß nur da oder stand, wenn alle standen - und lächelte. Er war kaum größer als einen Meter vierzig und Eva sogar noch ein wenig kleiner. Die beiden waren ein seltsames, aber wunderbares Paar: Eva hörte nie auf zu sprechen oder zu singen - und er schwieg und lächelte.
Früher war Lutz Bäcker gewesen. Aber das war in einer anderen Welt gewesen. Damals hatten sie in einer kleinen Stadt in
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