Auf das Leben
Norddeutschland gewohnt. An einem Frühlingstag - die alte Geschichte - wurden all ihre Freunde und Nachbarn gezwungen, zusammen mit ihnen zum Bahnhof zu ziehen, ihr Gepäck in den Gepäckwagen zu laden und dann in die Waggons zu steigen. Die Koffer hatten sie vorher genau etikettieren müssen. Bevor der Zug losfuhr, war der Gepäckwagen am Zugende in aller Stille abgekoppelt worden. Die Bewohner der Stadt teilten sich das Eigentum ihrer früheren Nachbarn guten Gewissens. Denn die Vertriebenen würden kein Gepäck mehr brauchen. Deshalb wurde auch alles, was sie in ihren Geschäften und Häusern und Wohnungen und Schuppen und Garagen zurückgelassen hatten, verteilt; wenigstens unter denen, die es verstanden, sich Vorteile zu verschaffen. Die Stadt fühlte sich besser, ein Fluch war von ihr genommen worden, sie war endlich nicht mehr von Fremden infiziert, und nur wenige Leute würden sich dereinst die Mühe machen, die Ereignisse dieses Tages mit denen in Verbindung zu bringen, die nur wenige Jahre später stattfanden: Das gesamte Stadtzentrum - der Bahnhof, die Rangiergleise voller Personen- und Gepäckwagen, die Geschäfte, Häuser, Wohnungen und Schutzkeller, die Schuppen und Garagen - wurde in Staub und Asche und verschlungene Metallteile verwandelt.
Lutz und Eva wussten zum damaligen Zeitpunkt natürlich nichts von alldem, aber Eva erzählte mir eines Tages, wie sie vor einigen Jahren in ihre frühere Heimatstadt eingeladen worden waren, von jenen Menschen, die möglicherweise doch eine Art Beziehung zwischen den beiden Ereignissen hergestellt hatten und die Dinge geraderücken wollten. Deshalb luden sie die früheren Mitbewohner in ein modernes Hotel ein (das jetzt da stand, wo früher der »Deutsche Hof« gewesen war), und zu einem Treffen mit dem jungen Bürgermeister (im neuen Rathaus) und baten sie zu einem Gespräch mit Schulkindern, von denen jedes zweite keinen deutschen Hintergrund hatte, sondern aus der Türkei oder aus dem Balkan stammte. Aber jedermann fühlte sich besser dank dieser Einladung, und die Lokalzeitung druckte Fotos ab. Natürlich erkannten die verwirrten Gäste so gut wie nichts in ihrer früheren Heimatstadt wieder. Das große gewölbte Stahldach des Bahnhofs war durch eine Nachkriegsbetonkonstruktion ersetzt worden, die Straßenbahnen waren verschwunden, die Straßen sahen nicht mehr aus, wie sie einmal ausgesehen hatten, und das ganze Stadtzentrum war jetzt Fußgängerzone und betoniert.
Lutz und Eva hatten, jeder für sich, in getrennten Lagern um ihr Leben gekämpft, und es war eines der seltenen Wunder, dass beide auf ihre Weise überlebten und sich danach wiederfanden. Von da an war Eva die Starke, und Lutz arbeitete nie wieder. Er saß da und lächelte und sagte nur selten ein Wort. Eva fuhr ihn herum und kümmerte sich um ihn und versorgte ihn. Irgendwie schienen sie ein glückliches Paar zu sein.
Eines Tages geschah dann, was viele von uns gefürchtet hatten. Die kurzsichtige Eva, die kaum über das Steuer hinausschauen konnte, fuhr ihren kleinen Morris gegen einen Baum. Es war ein Mittwochnachmittag. Ich erfuhr von Freunden und Mitgliedern der Frauenvereinigung, dass sie mittwochs immer im Restaurant gegessen hatte, allein oder mit Freunden, eine riesige Mahlzeit mit Fleisch. Steak, Huhn, alles Mögliche. Zu Hause waren sie Vegetarier, und das Mittwochsmahl war Evas Festschmaus. Lutz blieb immer zu Hause. So erfuhr ich die Neuigkeit auch von Edna, der Chorleiterin. Lutz sei Vegetarier geworden, erzählte sie mir, nachdem er einmal gesehen hatte, dass seine Mitgefangenen eine Leiche aßen. Eva unterstützte ihn zu Hause, hielt sich aber schadlos, indem sie einmal in der Woche anderswo Fleisch aß. Er wusste es, aber es war ihm egal. Solange es nur bei ihnen zu Hause kein Blut und kein totes Tier gab. Offenbar war er diesbezüglich sehr, sehr streng und lächelte ausnahmsweise nicht dazu.
Nun war Eva gegangen. Wir taten für Lutz alles, was wir konnten, ein paar gute Nachbarn und natürlich der jüdische Sozialdienst, aber - was würde aus ihm werden?
Ich machte mir Sorgen und ging eines Tages, etwa anderthalb Monate nach dem Unfall und der Beerdigung, bei ihm vorbei. Sie besaßen einen kleinen Bungalow in den Fallowgates, dem jüdischen Viertel der Stadt, und Lutz hatte beschlossen, dort zu bleiben. Warum auch nicht? Er konnte herumlaufen, er war nicht behindert. Man hatte einen Plan aufgestellt, nach dem die Gemeindemitglieder ihn abwechselnd zum Gottesdienst
Weitere Kostenlose Bücher