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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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zum Einkaufen.«
    »Oh, gut. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass Sie ganz allein wären. Ich habe Sie auch nicht mehr in der Synagoge gesehen.«
    »Rabbi, nehmen Sie es nicht persönlich. Aber ich glaube nicht, dass Sie mich noch oft beim Gottesdienst sehen werden. Gott und ich haben einander nicht viel zu sagen, und ich glaube, ich bin zu alt, um meine Ansichten zu ändern.«
    »Aber Sie sind doch regelmäßig gekommen«, sagte ich.
    »Nein, Rabbi, Sie verstehen das nicht. Tut mir leid. Ich bin nicht gekommen, ich bin mitgenommen worden. Eva wollte mich nicht allein lassen. Sie sagte, es würde mir guttun. Leute zu sehen, sie singen zu hören. Was hätte ich sonst tun sollen? Natürlich ließ ich mich mitnehmen. Es war gut so. Aber jetzt muss ich nicht mehr in den Gottesdienst gehen. Machen Sie sich keine Sorgen, Rabbi, es geht mir gut.«
    Und das stimmte. Das war deutlich zu merken. Es ging ihm gut da, wo er war. Er war bei sich und konnte nun sein, wie er war, und es gab weder Schuld noch Trauer, nur eine tiefe Ergebenheit, die ich, ehrlich gesagt, ergreifend und schrecklich zugleich fand. Jemand hat mal zu mir gesagt, wir Juden brauchen keine Hölle - wir haben ja schon diese Welt. Und wir brauchen auch keinen Himmel, wir haben ja schon diese Welt. Lutz war zufrieden. Er hatte beides gesehen.
    Ich erkundigte mich nach seiner Briefmarkensammlung - er hatte nur englische Marken, wie er sagte, seine zitternde Hand war das größte Problem, wenn er versuchte, sie zu ordnen. Er konnte einen Spaten halten und arbeitete gerne im Garten, aber ein Nachbar musste für ihn das Gras mähen und die kleine Hecke im Vorgarten schneiden. Er las nicht viel. Aber er hatte das Fernsehen. Und es schien ihm wirklich gut zu gehen.
    Ich aß mein drittes Stück Kuchen. Dann sagte ich, ich müsse jetzt gehen, ich hätte noch einen anderen Besuch zu machen. Und ich ging. Aber ich hatte viel gelernt. Nicht nur über die Vergangenheit, die schreckliche Vergangenheit, die so viele nette ältere Leute hier in ihren kleinen Bungalows in den Vorstädten quält. Ich hatte auch gelernt, nicht alles zu glauben, was man hört, und noch nicht mal das, was man sieht. Das war eine wichtige Lektion. Lutz würde älter werden, er würde schwächer werden, er würde Hilfe brauchen. Das war klar. Aber so weit war es noch nicht. Er war eben erst erwachsen geworden. Und ich hatte wieder einmal die Erfahrung gemacht, dass Menschen manchmal auf den seltsamsten Wegen das Beste aus ihrem Leben machen, trotz allem …

Rothaarig

    Es ist eine erwiesene Tatsache, dass nur zwei Prozent der Weltbevölkerung rote Haare haben. Die Wissenschaft sagt, das liege an einer Genmutation des Chromosoms 16, wobei es nicht so sehr das Melanin sei, das die Farbe der Haare und die Empfindlichkeit der Haut beeinflusse, sondern das Phäomelanin. Ziemlich viele Juden aus Osteuropa haben rote Haare - wie viele genau, weiß ich nicht, auf jeden Fall ist das Gen aber deutlich erkennbar.
    Darüber dachte ich erstmals verstärkt nach, als ich mich in der Religionsschule meiner neuen Gemeinde umschaute. Unter den Kindern der Gemeinde, den Sechs- bis Dreizehnjährigen, gab es besonders viele Rothaarige. Das Spektrum reichte von hellem Braun bis Orange. Je heller die Haare, umso blasser die Haut - Rothaarige reagieren oft sehr viel sensibler auf Sonnenstrahlen. Und auch sensibler auf andere Dinge. Oder war ich es, der zu sensibel reagierte? Ich war neu hier - in der Gemeinde und auch in diesem Teil des Landes - und musste viel lernen: den lokalen Dialekt, die örtlichen Traditionen. Mein Vorgänger, Rabbi Silberstein, war beim Gottesdienst gestorben, an einem Herzinfarkt, nachdem er dieser Gemeinde fast zweiundzwanzig Jahre lang gedient hatte. Er war keiner gewesen, der zu Rabbinatsversammlungen oder Konferenzen kam; kein Angehöriger der Rabbinerkonferenz hatte ihn wirklich gekannt - seltsam in einer relativ kleinen Gemeinschaft wie unserer -, aber er war, soweit man hörte, glücklich und erfolgreich bei seiner Arbeit gewesen. Er war einfach in seiner Gemeinde geblieben und hatte sich nicht an den politischen Spielen beteiligt, hatte nicht um einen Platz in der fragilen Hierarchie gekämpft. Und nun war mir, der ich noch relativ jung war und bereit, von meiner ersten kleinen Gemeinde in eine größere zu wechseln, dieser Posten angeboten worden, und ich hatte das Angebot angenommen.
     
     
    Die Präsidentin hatte mich zum Tee eingeladen. Janet war eine gut gebaute Frau. »Drall«

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