Auf das Leben
Foxman - ich kannte den Namen und hatte sogar eine vage Vorstellung von seinem Gesicht, als ich seine Stimme hörte. Er war verzweifelt, man konnte es nicht anders sagen. »Rabbi, meine Jenny ist gestorben! Sie müssen etwas tun, bitte!«
Angespannt und fieberhaft nachdenkend griff ich nach dem Kugelschreiber und dem Block, die immer neben dem Telefon liegen. »Es tut mir leid, wirklich sehr leid«, sagte ich und fügte den traditionellen Spruch zur Heiligung Gottes hinzu: »Baruch dajan ha-emet«. Er bedeutet, dass man, was auch immer passiert, Gott als gerechten Richter akzeptiert, der weiß, was Er tut, und der seine Gründe dafür hat. »Kann ich Ihnen erst ein paar Fragen stellen?«, bat ich und versprach: »Dann komme ich vorbei.«
Er schluchzte, während ich mir seine Adresse aufschrieb. Es klang wirklich schrecklich. Jenny war erst dreizehn Jahre alt und an Krebs erkrankt gewesen - und ich hatte nichts davon gewusst! Wie konnte das nur passieren? Wie hatte es passieren können, dass mir keiner davon erzählt hatte? In Gedanken verfluchte ich Eddie, den ehrenamtlichen Sekretär, der immer behauptet, alles zu wissen, sein Wissen aber offenbar gern für sich behielt.
Zu Arnold Foxman sagte ich, ich würde in einer Stunde bei ihm sein. Dann rief ich »Hebblethwaites« an, das Bestattungsinstitut, das wir immer einschalten - sie haben einen Nachtdienst und wissen, dass es bei uns Juden üblich ist, einen Toten möglichst schnell zu beerdigen. Die Leute würden sogar mitten in der Nacht einen Leichenwagen und ein paar Männer schicken; schließlich haben wir einen Vertrag mit ihnen. Es war kein angenehmer Anruf, aber ich schätze, sie sind an so etwas gewöhnt. »Jenny Foxman, dreizehn Jahre alt. Krebspatientin. Wohnhaft in …«, und dann nannte ich die Adresse in der Bloomdale-Siedlung. Es war kein wohlhabender Stadtteil, alles andere sogar. Anschließend rief ich Amanda an, die Vorsitzende, und informierte sie - wie immer, wenn in der Gemeinde jemand stirbt. Sie setzt die Telefonkette in Gang. Dann war es Zeit, meine Schuhe und die Autoschlüssel zu suchen und zu kontrollieren, ob ich die richtigen Formulare, das Gebetbuch und eine jorzajt- Kerze in meiner Tasche hatte. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es gut war, immer einen kleinen Vorrat zu haben, es ist nämlich immer hilfreich, wenn man im Haus eines Verstorbenen eine Kerze anzündet und einige Gebete liest, bevor man wieder geht. Das macht einen geschäftsmäßigen Besuch zu einem tröstlichen, fürsorglichen. Dann fuhr ich in den Herbstnebel.
Als ich westwärts in die Ringstraße einbog, ließen mir meine Gedanken keine Ruhe. Wie konnte es sein, dass ein Kind der Gemeinde an Krebs erkrankt war und niemand es mir gesagt hatte? Ich kannte Arnolds Namen, aber ich hatte nicht in der Mitgliederliste nachgeschaut, wie seine Frau hieß. Gab es da noch andere Kinder? Vielleicht war seine Frau ja keine Jüdin, in diesem Fall wäre auch das Kind kein Mitglied und meine eilige Reaktion also ein Fehler. Dann wäre es zwar meine Aufgabe, den Vater zu trösten, nicht aber, das Kind zu beerdigen. Nun gut, wenigstens war ich unterwegs.
Ich fand das Haus ohne große Schwierigkeiten - diese Wohnsiedlung ist ein bisschen verwirrend, es gibt außer einer Bloomdale Avenue auch einen Bloomdale Drive, eine Bloomdale Street, eine Bloomdale Road, Bloomdale Crescent, Bloomdale Rise, Bloomdale Grove und sogar die Bloomdale Gardens - und klingelte. Ich hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, wie immer bei solchen Gelegenheiten - du weißt, dass jemand eine schreckliche Tragödie erlebt hat und dass du im Grunde nichts tun kannst. Du bist nur gekommen, um demjenigen zu helfen, die Reste eines zerbrochenen Lebens zusammenzufegen. Und du tust das nur, weil es alles ist, was du tun kannst, und weil irgendjemand das schließlich übernehmen muss, und du hast dich dazu entschieden, weil du überzeugt bist, dass dies genau das ist, was du mit deinem eigenen Leben anfangen sollst. Anderen Menschen zu helfen, die Stücke ihres eigenen Lebens zusammenzuhalten …
Arnold Foxman. Ich ging in Gedanken durch, was ich über ihn wusste, durchforstete meine mentale Datenbank aus Bildern und bruchstückhaften Eindrücken. Er hatte ergrauendes Haar, kahl werdende Schläfen und ein großes Kinn, erinnerte ich mich. Irgendwie stellte ich ihn mir in einer braunen Strickjacke vor. Und als er die Tür öffnete, sah ich, dass ich mit dieser Vorstellung richtig lag. Man sah ihm an, dass
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