Auf das Leben
war das Wort, das mir dazu einfiel. Sogar im Stehen neigte ihr Oberkörper sich nach vorn. Früher hatte sie irgendetwas in der Werbung gemacht, jetzt führte sie einen kleinen Copyshop. Wir plauderten erst eine Weile höflich über meine neue Wohnung, über das Einrichten, den Namen eines guten Zahnarztes, den sie empfehlen könne (allerdings kein Mitglied der Gemeinde) und so weiter. Und dann erwähnte ich die Haare.
»Na ja, Rabbi, darüber gibt es die eine oder andere Geschichte. Wir haben Ihren Vorgänger geliebt. Durchaus auch ganz aktiv, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ich verstand es nicht. War ich zu dumm? Drückte sie sich nicht klar aus?
Sie sah mein verdutztes Gesicht und seufzte. »Hören Sie, Rabbi, irgendjemand wird es Ihnen ohnehin erzählen, deshalb kann ich es auch gleich tun. Jim, Rabbi Silberstein, kam vor über zwanzig Jahren zu uns. Als junger Mann. Er war alleinstehend und gut aussehend. Man konnte sogar sagen: er war sehr maskulin. Und das, was man charismatisch nennen könnte. Die Leute mochten ihn. Strömten zu ihm. Ihm ist es zu verdanken, dass wir damals so wuchsen - die Gemeinde ist jetzt dreimal so groß wie bei seiner Ankunft. Aber ein Teil dieses Wachstums ist, wenn man einigen Leuten glaubt …« Sie schwieg einen Moment, zögerte, wirkte erregt. Dann nahm sie sich zusammen. »Ein Teil dieses Wachstums könnte ihm zugeschrieben werden, ganz direkt. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Oh, er war sehr hilfsbereit, ja?« Ich versuchte, sie zu unterstützen.
»Nun, er half tatsächlich«, sagte Janet und senkte den Blick. »Ja, dafür war er bekannt. Und es ist so, dass es scheinbar niemanden gestört hat.«
»Hatte er Familie?«, fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, ich wusste noch nicht mal, ob es in der Gemeinde eine Witwe gab, die ich aus Höflichkeit besuchen sollte, oder irgendwelche Kinder.
»Nein, nicht wirklich. Nicht offiziell jedenfalls. Er war nicht verheiratet.«
»Ach so.« Ich nahm an, mithilfe meiner weltlichen Weisheit verstanden zu haben, was sie meinte. Schließlich gibt es im Leben eines jeden Menschen Dinge, die privat bleiben sollten, auch wenn sie es selten tun. Ich war schon von einigen Damen der Gemeinde ausgehorcht worden, wo denn meine Freundin sei oder ob es gar schon eine Verlobte gebe? Es fiel mir immer schwer, die richtige Antwort zu finden, die einerseits nichts verriet, andererseits aber auch keinen Anlass zu lästigen, missverständlichen Gerüchten gab, wie zum Beispiel: »Er ist nicht der Typ zum Heiraten« (Zwinker, Zwinker).
Wir wurden durch die Ankunft eines gut aussehenden Teenagers unterbrochen. »Das ist Ollie«, sagte Janet. »Ollie, sag dem Rabbi guten Tag. Und zieh im Haus diese Fußballschuhe aus.«
»Hallo, Rabbi«, sagte Ollie pflichtbewusst, war aber offensichtlich nicht sonderlich interessiert an mir. Er klapperte ein wenig in der Küche herum; wir hörten, wie der Kühlschrank mehrere Male auf- und wieder zugemacht wurde, dann tappten Schritte im Flur und im Treppenhaus. Janet blieb ganz ruhig sitzen und sprach erst weiter, als oben eine Tür geschlossen worden war.
»Nein, Rabbi«, sagte sie. »Ich bin nicht sicher, ob Sie mich wirklich verstanden haben. Zum Teufel, ich kann es genauso gut auch deutlich sagen. Jim Silberstein war nicht nur ein guter Rabbiner, sondern auch ein wunderbarer Mann. Und wir liebten ihn alle. Sogar sehr.«
Dann ging ihr Telefon, und sie nahm das Gespräch an. Offenbar würde es länger dauern, denn sie bat den Anrufer, einen Moment zu warten, und verabschiedete mich eilig und entschuldigend mit Handbewegungen und Schulterzucken. Wir würden ein andermal weiterreden, versprach sie.
»Ja, natürlich«, sagte ich und nahm mir im Flur meinen Hut und den Mantel.
Dann sah ich auf dem kleinen Fensterbrett neben der Haustür ein Foto, das offenbar in der Synagoge aufgenommen worden war. Es zeigte einen großen Mann in einem dunklen Gewand und mit einer Kippa. Es war das Foto meines Vorgängers. Er hatte ein charmantes Lächeln, durchdringende Augen und flammend rote Haare. Genau wie Ollie, Janets Sohn, fuhr es mir durch den Kopf.
Was gibt’s Neues, Pussycat?
Der Anruf kam spätabends, und vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich so übereilt reagierte. Aber egal welche Ausrede ich habe - Tatsache ist, dass ich mich gründlich zum Narren gemacht habe. Und dass ich aus dieser Erfahrung etwas gelernt habe. Das ist das Beste, was man in solchen Fällen sagen kann.
Der Anrufer war Arnold
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