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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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er geweint hatte. Er hielt ein kleines Bündel im Arm, eine dünne, hellblaue Decke, in die etwas eingewickelt war.
    »Kommen Sie herein, Rabbi, kommen Sie herein. Danke, dass Sie mich besuchen. Ich war nicht sicher, ob ich Sie so spät am Abend stören durfte, aber ich musste einfach anrufen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«
    »Du lieber Himmel, nein, natürlich nicht.« Ich trat in den Flur. Merkwürdig, es sah nicht so aus, als würde hier eine Familie wohnen. Es fühlte sich nach einem Einpersonenhaushalt an; ich spürte irgendwie ganz deutlich, dass Arnold allein lebte - zumindest allein, was andere Menschen betrifft. Ich nahm einen deutlichen Geruch nach Katzen wahr. Einen scharfen Geruch.
    Arnold führte mich in ein Nebenzimmer und deutete auf ein ziemlich schäbiges Sofa. Der Boden war mit Papier und alten Zeitungen bedeckt, und neben dem Gasofen stand ein Korb. Sorgfältig, ja zart, legte er das Bündel auf einen Sessel und blieb stehen. Ich schaute zu ihm auf - es war ein Sofa, dessen Federn eher Nägel waren. Etwas lief hier falsch. Ganz und gar falsch. Und ich war außerstande, es zu benennen. Aber ich spürte, dass sich vor mir ein riesiger Abgrund öffnete. Und dass ich - buchstäblich - drauf und dran war, direkt hineinzulaufen. Hilfe! Was sollte ich nur sagen? Was sollte ich tun?
    Es war Arnold, der den Bann brach, der das Eis brach, der die Stille brach. »Möchten Sie sie sehen?«, fragte er. Ich kämpfte gegen das Erschrecken, das in meiner Kehle aufstieg, nickte und sagte: »Ja, ich glaube, das wäre gut.«
    Ich erhob mich, weil ich annahm, das arme tote Kind liege oben in einem der Schlafzimmer, doch Arnold sagte: »Nein, bleiben Sie sitzen, Rabbi, hier …« Er hob das Bündel vom Sessel und legte es mir auf den Schoß.
    Oh Gott! Es war leicht, federleicht. Ich schlug einen Zipfel auf, und da lag sie, mager, mit geschlossenen Augen - Jenny - seine Katze.
    Jetzt kam es vor allem darauf an, nicht zu lachen. Nicht lachen!, befahl ich mir. Ja nicht lachen! Nicht über die Lächerlichkeit der Situation, nicht aus Erleichterung. Nicht lachen! Ernst bleiben! Beuge dich vor. Schaue sie eine Weile an und lege den Zipfel dann sorgfältig wieder über sie. Lehn dich zurück. Atme tief. Oh Gott! Was habe ich nur getan? Meine Gedanken überschlugen sich: Ich muss das Bestattungsinstitut anrufen, so schnell wie möglich. Ich muss Amanda anrufen und sie zurückpfeifen. Falscher Alarm. Keine Beerdigungsbrüderschaft, die zusammenzutrommeln ist. Aber das muss warten, bis ich mich schicklich verabschiedet habe und wieder bei meinem eigenen Telefon bin: den Apparat auf dem wackligen und zerkratzten Tisch hier im Flur darf ich nicht benutzen, da könnte er zuhören. Nein, die Anrufe müssen warten. Kümmern wir uns erst einmal um diese Sache hier. Arnold ist schließlich ein Mitglied der Gemeinde, und ich bin sein Rabbi. Er braucht jetzt Trost und Unterstützung. Lach bloß nicht! Auch kein Kichern, noch nicht mal Lächeln.
     
     
    »Könnte ich eine Tasse Tee haben?«, bat ich Arnold deshalb. Tee ist eine gute Verzögerungstaktik.
    »Natürlich, Rabbi, tut mir leid, dass ich so gedankenlos bin.« Er entschuldigte sich und ging geschäftig in die Küche am Ende des Flurs. Ich hörte das Klappern des Kessels und das Rauschen des Wassers. So hatte ich einen Moment Zeit, um mich umzuschauen und mich wieder zu fassen. Arnolds Haus war offensichtlich das Haus eines Alleinstehenden, eines Junggesellen, eines Witwers oder Geschiedenen, egal was. Es war auch offensichtlich, dass Jenny die ganze Familie dieses traurigen Mannes gewesen war, die einzige Kreatur, die mit ihm gelebt hatte, das einzige Wesen, das außer ihm selbst auf diesem Sessel oder auf diesem Sofa gelegen hatte. Jennys Anwesenheit hatte den Raum ausgefüllt, und zwar so sehr, dass ich mir sicher war, meinen Anzug morgen zur Reinigung bringen zu müssen. Aber bis der Tee kam, hatte ich wenigstens Zeit, mich zu berappeln und mir die richtigen Fragen zu überlegen. Als Arnold mit zwei Bechern starken Tees hereinkam und sie vorsichtig auf den Fußboden zwischen uns stellte, war ich bereit, das Gespräch in die richtige Richtung zu steuern. Und dann kam die ganze Geschichte heraus - in Bruchstücken, aber doch so, dass ich die Stücke ohne große Schwierigkeiten zusammenfügen konnte.
    Es hatte tatsächlich einmal eine Mrs Foxman gegeben, Mary, aber sie war vor vielen Jahren weggegangen, um mit einem anderen Mann zu leben. Und seither hatte Arnold keiner

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