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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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bringen würden. Aber wie das mit solchen Plänen ist, dauerte es nicht lange, und jemand vergaß Lutz oder konnte nicht oder was auch immer. So kam Lutz auf meine Liste der »dringenden« Besuche, ich fuhr zu ihm und klingelte.
    Lutz kam schnell zur Tür. Er schien irgendwie aufrechter zu sein, als ich ihn in Erinnerung hatte. Nicht wirklich größer, aber jedenfalls nicht so klein, wie er früher gewirkt hatte. »Oh, kommen Sie herein!«, sagte er. Vier Wörter hintereinander. Das mag vielleicht nicht viel erscheinen, aber ich hatte von diesem Mann jahrelang nichts anderes gehört als »Guten Morgen« oder »Danke«. Doch nun wirkte er anders, ganz anders. Kraftvoller.
    Er führte mich in das kleine Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen ein paar Briefmarken, so als würden sie gerade sortiert - ich hatte nicht gewusst, dass Lutz ein Philatelist war. »Kann ich Ihnen einen Tee anbieten, Rabbi? Ein Stück Kuchen?«
    »Ja, gerne«, antwortete ich. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte mir Lutz in eine Ecke gekauert vorgestellt, vielleicht noch im Bett, zumindest aber um elf Uhr vormittags noch im Schlafanzug. Ich schaute mich um, während er in der kleinen Küche hantierte. Alles sah ordentlich aus.
    Er brachte eine Tasse und eine Kanne herein sowie einen Teller mit ein paar Stücken Obstkuchen. »Selbst gebacken, Rabbi«, sagte er. »Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.«
    »Sie haben ihn selbst gebacken? Wunderbar. Klappt das eigentlich mit dem Essen auf Rädern?«
    »Oh, ich habe es gleich nach der ersten Woche abbestellt«, sagte Lutz. »Es schmeckt mir nicht, wissen Sie. Die haben dort keine Ahnung von der vegetarischen Küche. Außerdem backe ich gern. Ich war mal Bäcker, wissen Sie. Ich habe sogar eine Lehre gemacht.«
    Ich war ziemlich sprachlos. Das war nicht die Art Konversation, die ich mir vorgestellt hatte. Deshalb nahm ich einen Schluck Tee und einen Bissen Kuchen, um eine Pause entstehen zu lassen. Der Kuchen war wirklich köstlich. Ich sagte ihm das auch. Ein Kompliment ist immer eine gute Eröffnung für ein persönliches Gespräch.
    Er wurde rot. »Das freut mich. Ich bin ein bisschen außer Übung, und natürlich sind die Maßeinheiten hier auch ganz anders.«
    Ich lehnte mich im Sessel zurück. »Erzählen Sie mir doch, wie Sie zurechtkommen?«
    »Nun ja, Rabbi, ich muss mich immer noch daran gewöhnen, dass Eva nicht mehr da ist. Aber es ist nicht das erste Mal, dass wir mit einer Veränderung zurechtkommen müssen. Und jetzt, wo sie ihren Frieden hat, kann ich einige Dinge tun, von denen sie nicht gewollt hätte, dass ich sie tue. Zum Beispiel backen. Wissen Sie, die Dinge kommen zurück. Nicht nur die schlechten Dinge - natürlich erinnert man sich öfter an sie, wenn man älter wird -, sondern auch die guten.«
    »Eva wollte nicht, dass Sie backen?«
    Er machte eine Pause. »Sie müssen das verstehen, Rabbi. Eva ist sehr tief verletzt worden. Im Krieg. Im Lager. Selbst ich habe lange gebraucht, bis ich begriff, wie tief. Wir waren alle verletzt, und das heißt, dass man seinen eigenen Schmerz stärker wahrnimmt als den von anderen. Und nach allem, was geschehen war, musste Eva ihre Kraft erst wiederfinden. Ihre eigene Kraft. Und alles, was dazugehörte.«
    Ich rührte langsam in meinem Tee. Manche Leute rauchen eine Pfeife, nicht weil sie gerne rauchen, sondern weil das Herumhantieren mit einem Tabaksbeutel und Streichhölzern ihnen die Möglichkeit gibt, zwei, drei Minuten lang nachzudenken, ohne dass die Gesprächspause unbehaglich wäre. Ich rauche nicht, also musste ich in meinem Tee rühren. Es hatte die gleiche Wirkung: Ich sah beschäftigt aus und saß nicht dumm herum. »Und dann … was geschah dann?«, fragte ich. »Eva hat mir nämlich nicht viel von sich erzählt.«
    »Das hat sie nie getan, nein, nie. Ich glaube, sie hat es keiner Menschenseele erzählt. Noch nicht einmal Edna und den anderen aus ihrer Gruppe. Sie hat es mir auch nicht erzählt, bis wir nach England kamen, bis wir in Dover das Schiff verließen. Da brach sie zusammen, und ich musste sie in ein Café bringen. Wir haben den Zug verpasst, aber das war egal, wir hatten in jenen Jahren so vieles verpasst und so vieles verloren - was bedeuteten da schon ein Zug und ein Koffer? Wir hatten sowieso nicht mehr viel.«
    Ich rührte weiter. Es gab keinen Grund dafür, die Tasse war fast leer, aber ich musste meine Hände beschäftigen.
    »Sehen Sie, Rabbi, Eva war sehr klein. Genau wie ich. Und das war gut so. Als ich sie zum ersten Mal

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