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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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fast so traurig sind wie jene, in denen steht: »Hochzeitskleid, unbenutzt« … Es gibt Wochenenden für Singles und Junge-Erwachsene-Gruppen und Kulturreisen, um die Lücke zu füllen, die der schadchen hinterlassen hat. Aber selbst hübsche Mädchen finden bei solchen Gelegenheiten nicht immer, wonach sie wirklich suchen. Und Monica war kein Teenager mehr. Ihre biologische Uhr tickte. Sie versuchte alles Mögliche, jedoch ohne Erfolg. Sie kam regelmäßig zum Gottesdienst und schien inbrünstig zu beten - die Ärmste hatte viel, worum sie beten musste.
     
    Und dann, eines Tages, tauchte Charles auf, ein neues Gemeindemitglied. Er arbeitete in einem Autohaus, war plusminus Mitte dreißig und Junggeselle. Seine Firma wollte eine neue Filiale eröffnen, und er war beauftragt, diese aufzubauen. Aufbauen! Er hätte es selbst nötig gehabt, aufgebaut zu werden, so klein, schmächtig und glatzköpfig, wie er war. Charles trug eine dicke Brille und lächelte nervös. Er schien mir ein netter Kerl. Er meldete sich bei mir an, ich befragte ihn und hieß ihn dann willkommen. Schon hatten wir ein neues Gemeindemitglied.
    Einfach nur ein neues Gemeindemitglied? Nicht für Monica! Ganz im Gegenteil: Als er das erste Mal zum Schabbatgottesdienst kam, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Das war nicht zu übersehen - jedem Gemeindemitglied fiel es auf. Sie drehte den Kopf nach ihm, sie starrte ihn an. Aber Charles schien es nicht zu bemerken. Oder verstellte er sich nur? Während des Gottesdienstes sollte man sich auf die Gebete konzentrieren und auf den, an den sie gerichtet sind, aber seit es Juden gibt, gibt es in der Synagoge auch Tratsch und Ablenkung. Es ist kein Wunder, dass wir ein »halsstarriges Volk« genannt werden - unsere Leute drehen ständig den Kopf zur Seite oder nach hinten, um mit anderen zu ratschen, statt zu beten.
    Um es kurz zu machen: Innerhalb weniger Wochen saßen die beiden im Gottesdienst nebeneinander, und eines Tages riefen sie an und vereinbarten einen Termin mit mir. Ich war überglücklich. So lange hatte es an mir genagt, dass mir einfach nichts mehr eingefallen war, wie ich Monica hätte helfen können. Und jetzt hatte sie endlich jemanden gefunden - und dieser Jemand hatte sie gefunden.
    Monica und Charles waren ein seltsames Paar, aber ein strahlendes. Sie wirkten sehr glücklich miteinander. Unter der Chuppa schien Charles, auch wenn es sonderbar klingt, irgendwie größer zu sein, durchsetzungsfähiger, und Monica sah trotz ihrer wogenden Formen wirklich wie eine kleine Braut aus. Es ist schwer zu erklären, aber sie standen als ganz normale Menschen da, und niemand, wirklich niemand empfand etwas anderes als Freude über ihre Freude. Ich hatte Gekicher befürchtet, Kommentare, Witze. Aber nein, dies war offensichtlich eine von vielen erhoffte und freudig erwartete Hochzeit, an der sie gern teilnahmen. Entsprechend gelöst war die Stimmung.
     
     
    Die beiden sind übrigens noch immer zusammen. Nach zwei Fehlgeburten und einem Beinahe-Nervenzusammenbruch wurde Monica endlich Mutter - sie bekam ein kleines Mädchen. Ich glaube, ich habe zuvor und nie mehr danach eine solche Welle von Stolz und Zufriedenheit bei Eltern erlebt wie in jenem Moment, als ich auf der Bima stand und das Kind von Monica und Charles segnete.
    Es war offenbar wirklich eine Ehe, die im Himmel geschlossen war. Auch wenn Geraldine, die Sekretärin, sarkastisch zu mir sagte: »Sehen Sie, Rabbi, für jede dicke Frau gibt es einen dünnen Mann, der sich danach sehnt, in sie hineinzukommen.«

Der Liebhaber

    Natürlich trifft man in seiner Eigenschaft als Rabbiner viele Menschen erst dann, wenn sie ihre besten Jahre schon hinter sich haben. Wenn sie gebrochen oder verbraucht und verwelkt sind und ihre letzten Jahre als Rentner oder im Pflegeheim verbringen. Daran lässt sich wenig ändern. Allerdings habe ich mir schon seit langem angewöhnt, bei der Vorbereitung zu einer Beerdigungsrede die Familie zu fragen, ob es vielleicht ein Jugendfoto des Verstorbenen gebe. Und so wurde aus der alten Dame, die man nur aus der hintersten Reihe der Synagoge oder als Mitglied des Wohltätigkeitsvereins oder als vertrockneten, blassen, halb durchsichtigen Kohlkopf im Pflegeheim gekannt hatte, plötzlich wieder die Tänzerin mit den wunderbaren, aufreizenden Beinen, die junge Mutter mit den vollen Brüsten, die Frau mit dem glücklichen Lächeln und einer altmodischen Frisur.
    Diese Fotos werfen die alten Fragen auf, die um das Alter und

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