Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
Sterben kreisen: Wie wünschen wir uns, dass man sich an uns erinnert? Als »Alte« und »Zerknitterte« oder als die kräftigen jungen Männer und die femininen jungen Frauen, die wir einmal waren? So ein Jugendfoto half mir immer, meine Totenrede in einen gewissen Zusammenhang zu stellen. Als junger Rabbi hatte ich den Betreffenden, wenn überhaupt, nämlich höchstens die letzten fünf Jahre seines Lebens gekannt, das insgesamt über siebzig Jahre gedauert hatte. Ich kannte sie nur als alte Leute. So ist es nun mal. Kinder, die in der Schule einem Holocaust-Überlebenden zuhören, werden immer glauben, dass Holocaust-Überlebende als alte Leute geboren wurden - wohingegen diese doch vor allem deshalb überlebt hatten, weil sie jung und kräftig gewesen waren. Die Jahrzehnte gehen nun mal vorüber. Und auch wir, die wir jung sind, werden eines Tages alt. Äußerlich zumindest. Innerlich bleiben wir jedoch der junge Mann oder die junge Frau. Wenn wir diesen Widerspruch nur aushalten würden.
     
     
    So war es auch mit Jack. Die Meinungen über Jack, stellte ich schnell fest, gingen auseinander. Einige Leute, zum Beispiel Mrs Preece, sprachen ziemlich verächtlich über ihn: »Jack? Ach, der ist ein Filou. Als er jung war, hat er mit allem geschlafen, was zwei Beine hatte.« Ich war zu höflich, um mich zu erkundigen, ob diese Aussage auch sie mit einschloss oder ob sie sich nur so negativ äußerte, weil sie neidisch war. Mir fiel sofort die Geschichte des Mannes ein, der eines Tages nach Hause kam und zu seiner Frau sagte: »Ein Kerl in der Kneipe hat gesagt, er hätte mit jeder Frau in dieser Straße geschlafen, außer mit einer«, und sie antwortete: »Oh, ich frage mich, wer das wohl sein könnte.« Man kann mit einer sorglosen Antwort viel preisgeben.
    Andere hatten angenehmere Erinnerungen an Jack beziehungsweise an den Mann, der er offenbar einmal gewesen war. »Oh, er war ein Schatz«, zwitscherte Maggie und lächelte bei der Erinnerung. »So ein netter Mann. So ein guter Mann. So ein warmherziger Mann …« Sie schien nicht genau zu wissen, ob und wie sie den Satz beenden sollte, und wirkte ein bisschen verlegen. Das Ergebnis meiner feinfühligen Befragungen lautete, dass Jack einer jener Männer gewesen sein musste, die nie geheiratet hatten, was sie aber keineswegs davon abhielt, zu jeder Tages- und Nachtzeit weibliche Gesellschaft zu suchen.
     
     
    Auf alle Fälle war Jack aber jemand, dem ich sehr gerne einen Besuch abstatten wollte. Obwohl oder gerade weil er jetzt Bewohner des »Rose Bay House« war. Das »Rose Bay House« ist eine jener großen, freistehenden viktorianischen Villen in der Nähe des Parks, wo man »Senioren« (ich hasse diese Bezeichnung) in hohe Sessel setzt und sie, in Sicherheit vegetierend, in stickigen, schlecht gelüfteten Empfangshallen fernsehen lässt, bis der Tod die gesegnete Erlösung bringt. Tagsüber fernzusehen, während einem osteuropäische oder asiatische Frauen mittleren Alters, die in dünne Nylonkittel gewandet sind, Tee in Plastikbechern bringen, ist jedenfalls eine Art lebendiger Tod …
    Früher waren diese Häuser ein Zuhause für die besseren Familien gewesen, für Industrielle und Stadträte. Sie beschäftigten eine Haushälterin, einen Butler, einen Koch, ein Dienstmädchen und besaßen eine eigene Kutsche und Pferde. Selbstverständlich hatten diese Häuser eine eigene Auffahrt, die sie von der Außenwelt abtrennte. »Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg«, muss das Motto der Architekten gewesen sein. Nun sind die Auffahrten zerbröckelt, der Asphalt ist rissig und die Hausmauern verrußt, die Lorbeersträucher sind außer Kontrolle geraten und verleihen der ganzen Umgebung einen dunklen, verschatteten Eindruck. Die Fensterrahmen könnten einen Anstrich gebrauchen, und außerdem riecht es nach Suppe. In solchen Einrichtungen riecht es irgendwie immer nach Suppe, vor allem nach Suppe. Es ist unmöglich, die verschiedenen Gerüche zu unterscheiden - nur die Suppe erkennt man.
     
     
    An einem solchen Ort muss man sich nicht vorher anmelden. Dort freut man sich über jeden Besuch, der die Monotonie unterbricht - manchmal, wenn ich dort in einem Sessel sitze, mich vorbeuge und mit einem alten Menschen spreche, tauchen zwei, drei andere mit ihren Gehhilfen auf und versuchen, sich in das Gespräch zu drängen. Ich muss sie dann buchstäblich zurückpfeifen. Sie wollen dem netten jungen Mann nämlich unbedingt »Hallo« sagen.
    So fuhr ich also an einem

Weitere Kostenlose Bücher