Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
Nicht wegen des Krachs und des Durcheinanders, auch nicht wegen der Kosten, sondern vor allem wegen der Verantwortung. Deshalb habe ich immer Vorsichtsmaßnahmen getroffen.«
    Dann schwieg er eine ganze Weile. Irgendwann stand ich auf und ging. Vielleicht hatte ihn die Erkenntnis getroffen, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach? Ich wollte mich nicht aufdrängen - nicht zu diesem Zeitpunkt. Ich wollte eventuell später darauf zurückkommen.
     
     
    Ein andermal sagte Jack: »Das Geheimnis ist, nicht zurückzuschauen. Genieße, was jetzt ist. Es ist sinnlos zu sagen: Ich wünschte, ich wäre vierzig Jahre jünger. Du bist es nicht und wirst es nie sein. Aber du bist, wer du bist, und solange du deine Finger bewegen kannst, ist das doch was, sogar wenn andere Körperteile nicht mehr funktionieren.
    Jede Frau ist ein neues Abenteuer. Und alle wollen sie dasselbe, egal, wie alt sie sind oder ob sie hässliche Gesichter oder dicke Hintern oder flache Brüste haben. Du kannst jede glücklich machen, und sie werden sich dabei alle gleich anhören. Das gilt sogar hier im Heim, für die Frauen vom Personal. Sie arbeiten in seltsamen Schichten, und ihre Ehemänner haben das Interesse an ihnen verloren - da freuen sie sich, wenn einer ein wenig Interesse zeigt, sogar einer wie ich. Und wenn er ihnen ein bisschen Zärtlichkeit spendet … Schließlich ist es nachts dunkel …
    Es ist egal, an wen sie denken oder woran, solange sie nur bei dir sind.«
     
     
    Aha! Das erklärte zu einem guten Teil, warum die Pflegerinnen sich so umsichtig um Jack kümmerten und immer ein Lächeln für ihn übrighatten. Je sensibler ich dafür wurde, umso stärker fiel mir auf, wie dicht sie an ihm vorbeigingen, statt einen Bogen zu machen, und dass sie öfter zu seinem Sessel kamen als zu den anderen Alten im Aufenthaltsraum. Sie fraßen ihm alle aus der Hand!
     
     
    Einmal ging ich ihn auch abends besuchen. Jemand hatte angerufen und gesagt, Jack sei krank. Ich klingelte, weil die Eingangstür verschlossen war, und wartete eine Weile, dann klingelte ich noch einmal und noch einmal. Schließlich ging das Licht an, und eine Frau öffnete mir - eine der Frauen, für die das Wort »matronenhaft« erfunden worden war, obwohl ich nie erfuhr, ob sie eine Oberschwester war oder nur eine einfache Mitarbeiterin. Aber was spielte das auch für eine Rolle? Jedenfalls konnte ich dann gleich darauf feststellen, dass Jack in seinem Zimmer noch wach war und gute Laune hatte …
     
     
    Das Ende kam schnell und gnädig, als es so weit war. Die Krankenschwester des Heims rief im Büro an, Jack sei in der Nacht gestorben, ganz ruhig, im Schlaf, teilte sie mir mit. Es war eine große Beerdigung, zumindest überraschend groß für einen Kerl, der keine Familie hinterließ und die letzten Jahre im Abseits verbracht hatte, nämlich in einem Seniorenheim. Es müssen zwanzig ältere Damen gewesen sein, die leise in ihre Taschentücher weinten, als ich darüber sprach, was für ein sanfter Gentleman Jack gewesen sei und wie sehr er seine Mitmenschen respektiert habe. Auch vom Heimpersonal waren viele gekommen. Überhaupt waren vor allem Frauen da.
    »Er hat den Menschen das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein«, sagte ich.
    Ein allgemeines Seufzen ging durch den Raum.
     
     
    Mrs Preece, fiel mir auf, weinte übrigens am lautesten von allen.

V
    Hoffen

Der Hüter seines Bruders

    Der alte Mr Simmonds war tot. Das Sterben hatte lange gedauert. Es war ein langsamer, erbarmungsloser Verfall gewesen: Mr Simmonds hatte erst körperlich, dann auch geistig abgebaut und war dann als Pflegefall ins Heim gekommen. Da saß er dann wie so viele im Tagesraum und wurde schließlich auf die Station verlegt, wo diejenigen, die nicht einmal mehr im Tagesraum sitzen können, nur noch bleich und verschrumpelt im Bett liegen und an die Decke starren. Eines Tages erlosch sein Leben dann. Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern, wie T.S. Eliot sagt. Mit einem Murmeln. Einem Flüstern.
     
     
    Die Beerdigung war reine Routine. Die meisten seiner Altersgenossen lebten schon nicht mehr, und von den Hinterbliebenen konnte sich offenbar nicht jeder freinehmen. Es war an einem Donnerstagmorgen Ende Oktober, um elf Uhr, als Mr Simmonds zur Ruhe gebettet wurde, und die Erdklumpen schlugen dumpf auf den Deckel seines Sargs.
    Neben dem Erdhügel war der Grabstein seiner verstorbenen Ehefrau Ingeborg, die sieben Jahre vor ihm gegangen war. Kein sehr englischer Name, aber Mr

Weitere Kostenlose Bücher