Auf das Leben
Simmonds war ja auch nicht immer Mr Simmonds gewesen. Heinrich Simonsohn stand auf seiner Geburtsurkunde, und später war er - gezwungenermaßen - zu Heinrich Israel Simonsohn geworden. Bis er schließlich nach England kam und Engländer wurde.
Sein Sohn war zur Beerdigung gekommen. Martin Simmonds. Er war unverheiratet, mittleren Alters und offenbar wohlhabend. Er schien ein Akademiker zu sein. Er stand ruhig da und sagte das Kaddisch, als ich ihm das Zeichen gab. Bevor wir den Friedhof verließen, kam er zu mir und fragte, ob er mich aufsuchen könne, vielleicht morgen.
»Gerne auch schon heute«, sagte ich.
»Nein, ich habe noch einiges zu erledigen, tut mir leid - aber was ist mit morgen Vormittag?«
»In Ordnung. Ist Ihnen elf Uhr recht?«
»Gut, dann komme ich in Ihr Büro.«
Es war eine dieser hastigen, halb gemurmelten Unterhaltungen. Ich halte mich zurück, wenn ich auf einem Friedhof bin.
Am nächsten Morgen, kurz nach elf, schob ich ein paar Papiere hin und her, als der Summer auf meinem Tisch den Besucher ankündigte, Martin Simmonds. Ich wusste nicht viel über ihn, obwohl ich seinen Vater während seines langsamen Dahinscheidens einige Male besucht hatte. Deshalb war ich mir auch unsicher, was mich erwartete. Wir tauschten die üblichen Höflichkeiten aus wie Nachbemerkungen zur Beerdigung, solche Dinge eben. Dann beugte Martin sich vor und sagte: »Rabbi, ich möchte meinen Vornamen ändern. Und ich wollte Sie fragen, was das Judentum dazu sagt.«
Hmm. Diese Frage hatte ich nicht erwartet. »Nun ja«, setzte ich an, »es gibt einen alten Aberglauben, dass man seinen Namen ändern sollte, wenn man sehr krank ist, damit der Todesengel einen nicht findet. ›Änderung des Namens, Änderung des Schicksals‹, sagt man. Aber in Ihrem Fall geht es vermutlich um etwas anderes. Warum möchten Sie Ihren Namen ändern?«
»Na ja, mein Vater hat es getan, warum sollte ich es dann nicht auch tun dürfen? Was ist schon ein Name? Mein Vater ist endlich tot, da möchte ich einen neuen Anfang machen. Jetzt, wo er nicht mehr da ist. Vorher habe ich es nicht gewollt, wissen Sie.«
»Es tut mir leid, aber - was ist denn so schlecht an Ihrem Namen?«
»Es ist nicht mein Name. Er war es nie.«
Ich war mehr als verwirrt von dieser plötzlichen Wendung des Gesprächs. »Was wollen Sie denn damit sagen, Mr Simmonds?«
Unversehens brach alles aus ihm heraus, ergoss sich über meinen Tisch, über mich - Jahre über Jahre aufgestauten Schmerzes und Ärgers. Ich war ziemlich betroffen.
»Martin ist der Name meines Bruders. Meines echten Bruders, keines Halbbruders. Er ist gestorben, bevor ich geboren wurde. Er war acht, als er mit seinen Eltern - mit meinen Eltern - auf Transport in den Osten geschickt wurde. Sie werden ja wissen, was das bedeutet. Sie wurden voneinander getrennt. Meine Mutter kam erst in ein Ghetto und dann in ein Arbeitslager, mein Vater in ein anderes. Nach dem Krieg fanden meine Eltern einander mit Hilfe des Roten Kreuzes wieder - es dauerte über ein Jahr … Martin war tot, natürlich, und sie beschlossen, noch einmal neu anzufangen. Das Ergebnis bin ich. Sie nannten mich ebenfalls Martin. Sehen Sie, mein ganzes Leben lang bin ich der Ersatz für meinen Bruder gewesen. Mein ganzes Leben lang hat mir der andere Martin über die Schulter geschaut. Als ich jünger war, hieß es immer: ›Martin hat das so gemacht‹ und ›Martin hat immer so gegessen‹. Dabei war ich doch Martin! Ich konnte das alles nicht verstehen und nicht ertragen. Als ich endlich alt genug war, zog ich sofort aus. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, Rabbi, wenn man immer mit jemandem verglichen wird, der man doch eigentlich selber ist und dann doch wieder nicht - mit jemandem, den man so gut kennt, obwohl man ihn nie getroffen hat? Mit jemandem, mit dem man die Eltern teilt und alle Gene, aber nicht das Geburtsdatum? Ja, sie haben sich immer an seinen Geburtstag erinnert - der 14. Juni - und den Tag besonders begangen. Ich glaube, es war ihnen peinlich, dass ich drei Monate später geboren wurde, am 20. September, weil sie es nicht besser geplant hatten. Es gab keine Fotos von ihm. Keine Dokumente. Nur Erinnerungen. Und mich. Ich war ein lebendes Gespenst. Ich war nur der Ersatz. Martin Nummer zwei. Ich bin es leid.«
»Und jetzt?«
»Sie wissen ja, dass meine Mutter vor ein paar Jahren gestorben ist, noch bevor Sie hier angefangen haben, Rabbi. Ich wollte nichts unternehmen, solange mein Vater noch da war
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