Auf das Leben
einen geben, vor einer Bar Mizwa oder einer Hochzeit zum Beispiel. Dann suche ich nach irgendeiner Entsprechung. Ein Name, der mit dem gleichen Buchstaben anfängt oder eine ähnliche Bedeutung hat. Manchmal stelle ich auch fest, dass das Kind bereits einen biblischen Vornamen hat und als hebräischen Namen für die Synagoge einen zweiten biblischen Namen bekommt. Er heißt zum Beispiel Michael, aber sein hebräischer Name ist Benjamin oder so ähnlich. Und dann gibt es Leute, die konvertieren. Sie müssen sich ebenfalls einen neuen hebräischen Namen aussuchen, den sie in der Synagoge benutzen können. Aber in Ihrem Fall geht es ja nicht um einen hebräischen Vornamen für die Synagoge. Als Rabbi würde ich Ihnen nicht zu einem Namen wie Christopher raten! Und ich glaube auch nicht, dass Sie einen vietnamesischen oder chinesischen Namen möchten. Aber ansonsten können Sie sich frei entscheiden. Das bedeutet natürlich einen Haufen Papierkram, weil ja alles geändert werden muss - Ihr Führerschein, Ihr Bankkonto, egal was. Das Wahlregister. Das darf man nicht unterschätzen. Deshalb wäre es einfacher, wenn Sie sich einfach bei Ihrem zweiten Vornamen nennen ließen. Ich meine, ein vollkommen neuer Start wird in Ihrem Alter nicht einfach sein.«
»Sie haben recht. Allerdings habe ich keinen zweiten Vornamen. Aber Sie haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Vielen Dank, Rabbi.«
»Schon gut. Lassen Sie mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann«, sagte ich und begleitete ihn hinaus.
Das war es. Für ungefähr ein Jahr. Bis ich eines Tages einen Brief bekam. Aus Israel.
»Lieber Rabbi, ich möchte Ihnen noch einmal von Herzen danken für den Rat, den Sie mir nach der Beerdigung meines Vaters gegeben haben. Ich brauchte ein paar Wochen für meine Entscheidung, doch dann dachte ich, wenn es ein Neuanfang sein soll, dann eben richtig. Ein vollkommen neuer Anfang. Ein Bruch.
So bin ich dann hierhergekommen. Ich habe eine kleine Wohnung in Tel Aviv. Bis jetzt habe ich noch keinen Job, aber das wird sich alles finden. Vorläufig habe ja ich mein Erbe und meine Ersparnisse, ich brauche mir noch keine Sorgen zu machen. Zumindest habe ich jetzt mein eigenes Leben, mein ganz eigenes Leben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut sich das anfühlt. Diesmal nur für mich, nicht für meinen Bruder.
Schalom,
Israel Siman.«
Es dauerte ein paar Minuten, bis ich wusste, worum es ging, und mich an jene Unterhaltung mit Martin Simmonds erinnerte. Doch dann spürte ich ein warmes Gefühl. Israel hieß er nun also - ›der, der mit Gott und seiner Vergangenheit und seiner Bestimmung gerungen hat‹. Der Name, den sein Vater als Zeichen der Demütigung und der Ausgrenzung anzunehmen gezwungen war. Und Siman, das bedeutet Zeichen oder Merkmal auf Hebräisch - für ihn: ein Zeichen, ein Symbol für die Zukunft. Martin war tot, bereits zum zweiten Mal. Aber Israel lebt. Am Israel chaj. Das Leben geht weiter und überrascht uns mit immer neuen Anfängen …
Das Geheimnis des Bären
Er war groß. Das Haar an seinen Schläfen war weiß und sein Gesicht faltig. Er war gut gekleidet und nicht die Art Mensch, der normalerweise mit einem Teddybären herumläuft. Und doch war es so.
Es handelte sich um einen ziemlich abgewetzten Bären; sozusagen um einen fadenscheinigen Bären. Er hatte noch immer beide Augen - es waren Knöpfe -, von denen der eine ein bisschen locker war. Der Mann hielt ihn unter dem linken Arm, fest an sich gedrückt, als er mir gegenübersaß. Ich wartete darauf, dass er zu erzählen anfing.
Nach anfänglichem Zögern kam die Geschichte dann heraus. Man weiß vorher nie, was man zu hören bekommt. Jede Geschichte ist einzigartig, aber manchmal scheinen sie einem Muster zu folgen. Diese würde eine Geschichte aus der Kindheit werden, so viel war klar. Aber nein, oh nein, keine Geschichte für Kinder. Wer würde schon wollen, dass ein Kind eine solche Geschichte hört?
Ich werde sie frei wiedergeben. Es gab zwar immer wieder Pausen, Lücken, und gelegentlich musste ich nachfragen, einen Satz unterbrechen, das Schweigen brechen, um etwas zu klären. Aber grundsätzlich war die Geschichte stringent.
Er war in einer kleinen Stadt nicht weit von hier aufgewachsen, in einer warmherzigen Familie. Trotzdem begleitete ihn jedoch ein seltsames Gefühl. Was sind seltsame Gefühle? Welche Art von seltsamem Gefühl? Was macht Gefühle seltsam? Jeder von uns hat manchmal das Gefühl, als wäre er der
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