Auf das Leben
- obwohl er da war und nicht da war, Sie wissen, was ich meine: Er hat nicht mehr viel mitbekommen, wenigstens nicht in diesen letzten acht Monaten. Aber jetzt ist es möglich, Rabbi. Ich bin jetzt siebenundvierzig, und ich möchte einen eigenen Namen, ein eigenes Leben. Ich möchte neu anfangen. Einen sauberen Strich ziehen. Nur ich selbst sein. Kann ich das tun?«
Ich lehnte mich zurück und überlegte. Was für eine Geschichte! »Namen sind in der Bibel immer wichtig«, sagte ich dann. »Gott macht Avram zu Avraham und Sarai zu Sara, Moses ändert Joschuas Namen in Jehoschua. Der Engel vom Jabbokfluss verändert Jakobs Namen in Israel. In jedem dieser Fälle bedeutete die Namensänderung einen Neuanfang, eine neue Lebensphase. Jakob ist …« Ich machte eine Pause, als ob ich das, was ich sagen wollte, erst verdauen müsste - »Jakob hielt bei seiner Geburt nur die Ferse seines Bruders Esau. Aber Israel bedeutet ›der, der mit Gott ringt‹.«
»Ja? Das wusste ich nicht.«
»Ja. Diese Geschichte ist seltsam. Jakob kämpfte in der Dunkelheit mit einem Gegner, den er nicht sehen konnte. Einige der Rabbiner interpretieren es als inneren Kampf. Jakob rang also mit seinem Gegner. Als die Nacht zu Ende war und der geheimnisvolle Fremde weggehen wollte, verlangte Jakob einen Segen von ihm. Also gab ihm der Fremde diesen neuen Namen. Weil Jakob mit etwas, mit jemandem in der Vergangenheit gekämpft und gewonnen hatte - nur deshalb konnte er in die Zukunft gehen. Ironischerweise« - wieder machte ich eine Pause, was sagte ich da? -, »ironischerweise bedeutet die Zukunft in diesem Fall, dass er mit seinem Bruder Esau kämpfte und sich mit ihm arrangierte, bevor er sein neues Leben beginnen konnte.«
»Ein neues Leben …« Ich sah Martin an, wie fasziniert er war. »Wissen Sie, ich habe nicht das Gefühl, dass ich je richtig gelebt habe. Noch nicht, wenigstens nicht mein eigenes Leben. Ich habe mich nirgendwo wirklich niedergelassen, ich habe nie geheiratet, ich fand - nun, es klingt verrückt, aber wann immer ich eine Freundin hatte, hatte ich das Gefühl, verwirrt zu sein und nicht zu wissen, wer ich wirklich war. Daraufhin gingen die Frauen dann immer. Sie hielten es nicht aus mit mir. Diese Unsicherheit steckt tief in mir. Meine Eltern haben ein neues Leben angefangen, natürlich, sie mussten ja, und in gewisser Weise war ich ja auch ein Teil davon, aber in Wirklichkeit war ich nur eine Fortsetzung, eine Wiederholung ihres früheren Lebens. Und genau das hat mir solche Schwierigkeiten gemacht.«
»Viele Menschen haben nach dem Krieg neu anfangen müssen«, sagte ich. »Wer hierhergekommen ist, hat oft einen englischen Namen angenommen. Man wollte nicht als Ausländer auffallen, als Immigrant, als Flüchtling, als Exilant. Zu einer neuen Heimat gehörte ein neuer Name. Es war also durchaus üblich, sich anders zu nennen, ich brauche da nur an die Namen unserer Gemeindemitglieder zu denken. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Generation vor ihnen, für die Familien, die aus Osteuropa hierhergekommen sind. So mancher junge Mann verließ das Schiff und beschloss, nicht mit einem polnischen, litauischen oder galizischen Vornamen herumzulaufen. So mancher Mosche wurde zu Morris, Levi zu Louis, Hirsch zu Harry. Es kam natürlich auch vor, dass die Zollbeamten diese fremdländischen Namen einfach nicht buchstabieren konnten, und dann kam eine seltsame Version dabei heraus, die an demjenigen hängenblieb. Es gibt viele Anlässe, sich einen neuen Namen zuzulegen. Ganz zu schweigen von den vielen Menschen, die nach Israel gingen und hebräische Namen annahmen. Manche übersetzten ihre Namen oder wählten hebräische Worte, die ähnlich wie ihre alten Namen klangen. Wer sich Bar-Ilan nannte, hieß früher Berlin! Ben Gurion hat darauf bestanden! Er wollte nicht, dass die Repräsentanten Israels mit deutschen, polnischen oder russischen Namen durch die Welt reisten. Nein, sie mussten Namen in der Sprache des neuen Staates haben! Für Ben Gurion war es eine Frage des Prinzips. Kurz gesagt - wenn Sie Ihren Namen ändern wollen, würde ich Sie nicht daran hindern. Das ist schon oft getan worden.«
Martin war dankbar. Ich sah seinem Gesicht an, wie meine Worte langsam in ihn einsanken, sah es auch daran, wie er sich allmählich entspannte. »Sie meinen, ich kann wirklich irgendeinen Namen wählen, den ich möchte?«
»Na ja«, sagte ich, »es passiert oft genug, dass jemand keinen hebräischen Namen hat, und ich muss ihm
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