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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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einzige Mensch, der solche Ängste, solche grausamen oder schlimmen Fantasien hat oder solch ein sexuelles Verlangen. Jeder von uns hat sich schon vor schrecklichen Strafen gefürchtet, falls »sie« es je herausfinden würden. Ganze Religionen bauen darauf, dass sie die Menschen dazu bringen können, sich dafür schuldig zu fühlen, dass sie normal sind. Dafür bieten sie Erlösung und Rettung an, wenn die Menschen nur bereit sind, sich bestimmten Reinigungsritualen und Ideologien zu unterwerfen, um vor sich selbst gerettet zu werden. Wie können wir also wissen, ob das, was wir träumen, was wir fühlen, seltsam oder normal ist? Darüber spricht man nicht. Wenigstens so lange nicht, bis es zu spät ist. Dann ist der Zuhörer entweder ein professioneller Helfer oder ein Polizist.
    Der Mann mir gegenüber war also mit einem seltsamen Gefühl aufgewachsen. Es war die Zeit nach dem Krieg, und viele Menschen hatten seltsame Gefühle. Viele hatte man beraubt, viele hatten Grund, sich zu schämen. Damals schämten sich auch viele, die keinen Grund dafür hatten - sie hatten einfach nur alles getan, um zu überleben -, und andere, die sich hätten schämen müssen, weigerten sich hartnäckig, die Monstrosität ihrer Taten zu erkennen, sie weigerten sich zuzugeben, wie weit sie sich von den Normen der Zivilisation entfernt hatten, aber wenigstens senkten sie jetzt die Köpfe und hielten den Mund. All das war seltsam, doch was war schon normal in Zeiten wie diesen?
     
     
    Ob es sich sicher fühlen kann, spürt ein Kind vor allem nachts. Es ist nicht wichtig, was es tagsüber gespielt hat, aber wenn es allein im Bett liegt, wenn die Schatten hervorkriechen und das Haus anfängt zu knarren, dann stellt sich heraus, ob das Kind sich sicher fühlt oder nicht; ob das Knarren vertraut und damit beruhigend ist - Familienmitglieder im Nachbarzimmer, Radiomusik, Straßenbahnen oder Züge, die draußen vorbeifahren. Nur dann kann es die Augen schließen und die Kontrolle aufgeben. Wenn dieses Gefühl fehlt, liegt das Kind so lange wie möglich wach, seine Augen suchen in jeder Ecke nach irgendwelchen Ungeheuern, seine Ohren hören die Atemzüge von etwas Schrecklichem, es klammert sich verzweifelt an alles Sichere in der dunklen, gefährlichen Welt: an ein Betttuch, einen Daumen, ein Spielzeug … So etwas würde das Kind am hellen Tag niemals zugeben, noch nicht einmal gegenüber seinem besten Freund in der Schule. Aber all das ist ein elementarer Teil seiner Identität. Denn am Ende eines jeden Schultages, am Ende eines jeden Abends kommt die Nacht und damit die Zeit zum Schlafengehen.
     
     
    Der Mann hatte also einen Bären. Er erwähnte keinen Namen, und wenn ich es mir überlege, habe ich ihn auch nicht danach gefragt, aber das spielt auch keine Rolle. »Bär« reicht. Seine Mutter ermutigte ihn immer, diesen Bären festzuhalten. Sie sagte, der Bär würde auf ihn aufpassen, er solle ihn deshalb immer bei sich tragen. So kam es, dass er seinen Bären behielt, auch dann, als seine Freunde allmählich ihre eigenen Spielsachen ausrangierten - oder zumindest sagten, dass sie das tun würden. Selbst dann noch, als er in die Pubertät eintrat und andere Probleme seine nächtlichen Stunden erfüllten, andere Träume, andere Ängste.
    Dann, als er sechzehn war, erklärten ihm sein Vater und seine Mutter, dass er adoptiert worden sei. »Deine Eltern sind im Krieg umgekommen«, sagten sie, weitere Informationen hatten sie nicht zu bieten. »Die Zeit war hart, und du warst ein Waisenkind, deshalb haben wir dich zu uns genommen.«
    Nach einigen weiteren Jahren, nach vorsichtigem Bohren und Schweigen, Tränen und gelegentlichen Streitereien - wie er sich jetzt schämte wegen dieser Streitereien und dem, was er gesagt hatte - stellte sich heraus, dass seine Eltern ein anderes Kind gehabt hatten, früher, aber es war ebenfalls »im Krieg umgekommen«. Es war ein kleiner Junge gewesen, Julian, und er war bei einer Bombardierung umgekommen. Dann waren sie ihm begegnet. Sie wünschten sich so sehr wieder einen kleinen Jungen, und er brauchte ein Zuhause. Erst später - unterstützt durch eine Therapie - tauchten ein paar verschwommene, aber heftige Erinnerungsfetzen von lautem Krachen und Schreien und von Brandgeruch auf, von zerberstendem Holz und einem Gefühl der Angst.
    Ich war natürlich nicht selbst dort, aber ich habe Bilder gesehen und mit einigen Leuten gesprochen. 1945 gab es keine Städte und keine Dörfer in Europa, die nicht einen

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