Auf das Leben
Teil ihrer Bürger, ihrer Gebäude und auch jegliches Gefühl von Sicherheit verloren hatten. Der Tod kam entweder vom Himmel oder durch Hunger, durch Invasionstruppen oder Partisanen, durch direkte Gewalt oder Krankheiten, wenn die Leute zu geschwächt waren. Der Tod kam in die Häuser oder die Straße herunter. Telegramme informierten die Empfänger in abgehackten Formulierungen, dass jemand nie wieder nach Hause kommen würde. Menschen, die glaubten, zu einem Land oder zu einer Nation zu gehören, mussten feststellen, dass das nicht so war oder dass ihnen das Land unter den Füßen weggezogen worden war und sie jetzt in einem ganz anderen lebten. Religion, Politik, Sprache, Dokumente, sogar Namen - alles wurde zu potenziellen Risikofaktoren, die zur nächsten Runde von Diskriminierung oder Verfolgung führen konnten.
Für den kleinen Jungen war sein Bär die einzige Sicherheit, die er hatte, und deshalb klammerte er sich an ihn. Seine Mutter ermunterte ihn noch dazu, denn sie wusste, dass es herzlich wenig gab, was sie oder ihr Mann ihm stattdessen anbieten konnten. Und manchmal, wenn sie an seinem Bett saß, sagte sie: »Halte dich an den Bären, er passt auf dich auf.« Sogar später, als er schon älter war, sagte sie: »Halte dich an den Bären, du hattest ihn dabei, als du zu uns kamst.« Da wusste er, warum sie nie über ihn gelacht hatte, wenn er sich an ihn klammerte. Nämlich weil das, woran sein Herz hing, die einzige Verbindung zu seiner Vergangenheit war.
Dann starb sie. Sein Vater war ein paar Jahre zuvor gestorben, aber seine Mutter hatte weitergelebt, immer zerbrechlicher, am Ende hatte sie in einem staatlich geführten Altersheim gelebt, das nach Urin und Desinfektionsmitteln und Tod roch. Es war ein unwürdiger Platz für jene, die so vieles überlebt und so vieles wieder aufgebaut hatten, aber er war offenbar alles, was man für diese Generation aufbringen konnte oder wollte. Und bevor sie starb, bei einem seiner letzten Besuche, dem letzten, bei dem sie noch etwas besprechen konnten, hatte sie noch einmal gesagt: »Dieser Bär - du musst ihn immer bei dir tragen. Er wird auf dich aufpassen.« Als er antwortete: »Ich weiß, Mutter, ich weiß«, und während er sich fragte, was ihren schwindenden Geist dazu brachte, ihm einen derart kindischen Trost anzubieten, hatte sie hinzugefügt: »Deine Mutter hat ihn mir zusammen mit dir übergeben. Sie hat mich gebeten, dass ich dir das sage.«
Es war so unfair. So unfair. Er war wütend. Und ich konnte ihn verstehen, wenigstens teilweise. Ausgerechnet dann, als es zu spät war, als ihr Kopf nicht mehr klar war und sie kurz davor war, die Augen endgültig zu schließen - ausgerechnet dann hatte sie ihm wieder den Boden unter den Füßen weggezogen. Er war kein Waisenkind gewesen! Seine Mutter - so nannte er sie noch immer - hatte seine richtige Mutter gekannt! Sie musste seinen Namen gewusst haben! Sie musste so viel mehr gewusst haben, als sie ihm je gesagt hatte! Und nun, da es zu spät war, gab sie ihm nur einen Hinweis und nahm den Rest der Informationen mit ins Grab …
All die Jahre hatte er sie mit Fragen bedrängt, aber sie hatte ihn nicht gehört oder nicht hören wollen. Und auf einmal war es wirklich zu spät gewesen. Er hatte getan, was getan werden musste. Anschließend hatte er ihre Papiere und Bankunterlagen wie ein Detektiv durchgesehen, hatte jedes Stück Papier umgedreht, aber ohne Erfolg. Es war zu einer Obsession geworden. Seine Frau und seine Kinder - sogar seine eigenen Kinder waren inzwischen erwachsen, er war fast sechzig - verstanden ihn nur halb. Er wollte mehr wissen. Und der Bär war mittlerweile nicht mehr nur sein Trost, sondern ein Anhaltspunkt, der einzige Anhaltspunkt, den er hatte, der einzige Schlüssel zu einem Schloss - einem Schloss, das er nicht kannte.
Eines Tages kam ihm dann eine Idee. Bei einer Geschäftsreise hatte er einen Hinweis auf ein Spielzeugmuseum gesehen und entdeckt, dass ganze Bücher über Spielzeugbären erschienen waren. Es gab Sammler, Experten, Gutachter, eine ganze Welt von Erwachsenen, die sich diesem flauschigen Spielzeug und seiner Geschichte widmeten. Schließlich fand er einen Spezialisten und brachte seinen Bären zu ihm, zu einer Untersuchung - er grinste, als er es mir erzählte -, wie man ein Kind zum Arzt bringt, sagte er. Dieser Bärendoktor - offenbar ein sehr ernsthafter Mensch - untersuchte den Bären gründlich, drehte ihn um, suchte nach Etiketten oder
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