Auf das Leben
nicht, oder?«
»Nein«, bestätigte ich. »Nein, nichts so Einfaches.«
»Einfach, aber effektiv«, sagte er. »Lass einen Katholiken, der gesündigt hat, zwanzigmal ein Gebet wiederholen, und es geht ihm schlagartig besser. Das hat die Kirche in all den Jahrhunderten zusammengehalten. Der Mann war jedenfalls sehr dankbar. Er versprach, die ihm noch verbliebene Zeit auf Erden mit Beten zu verbringen, und ging. Er war der Letzte gewesen, deshalb konnte ich mich zurückziehen, um einen Tee zu trinken und zu pinkeln, und ein paar Tage später würde ich sowieso meine Sachen packen und gehen. Aber etwas ließ mich nicht mehr los. War er wirklich nur ein alter Kerl, der den Bezug zur Realität verloren hatte, weil er zu lange im Gefängnis war - was weiß Gott nicht ungewöhnlich wäre - oder nicht? Aber die Stimme dieses Mannes … Ich wusste natürlich keinen Namen, die Beichte ist heilig und anonym, aber ich fragte einen der Angestellten, der ebenfalls Katholik war, ob er jemanden kenne, der bereits sehr lange hier sei, ein Katholik, und wer das sei und wie viele Jahre er schon einsäße. Er versprach nachzuschauen.
Zwei Tage später rief er zurück, ich war noch einmal kurz ins Kaplansbüro gekommen, um meine Siebensachen einzupacken, als das Telefon klingelte.
›Pater‹, sagte er, ›erinnern Sie sich, dass Sie mich nach ein paar Lebenslänglichen gefragt haben?‹
Mein Zug sollte in einer Stunde gehen, aber ich sagte natürlich ›ja‹, und er sagte: ›Nun, es ist seltsam, aber es gibt nur fünf, die katholisch sind, und vier von ihnen sind in den letzten Jahren hierhergekommen. Aber der fünfte - na ja …‹
›Rücken Sie schon raus damit‹, sagte ich ungeduldig, weil ich meinen Bus zum Bahnhof erwischen musste.
›Nun, er hat eine Akte, so dick wie Ihr Arm. Und darin steht ›lebenslang‹ und ›keine Haftverkürzung‹ und Mord - es ist verrückt, ich habe es dreimal kontrolliert und kann es nicht verstehen, aber es sieht so aus, als wäre er seit 1820 hier!«
Father Sandy schaute mich an. Ich schaute ihn an und nahm noch einen Keks. Einen von diesen runden, mit einem Klecks Marmelade in der Mitte. Zwinkerte er mir zu? Ich war nicht sicher.
»Verblüffend«, sagte ich.
»Ja«, sagte er. »Das kann man laut sagen. Das war irgendwie kein gutes Geschäft, das er da gemacht hat, nicht wahr? Möchten Sie noch einen Tee, bevor Sie gehen?«
Postkarten
Man weiß nie, wer als Nächster durch die Tür kommt. Einer meiner Lehrer hatte mich davor gewarnt, und er hatte recht gehabt. Man weiß nie, welche Frage als Nächstes kommt, welches Problem, welche Herausforderung. Aber das gehört zu den Dingen, die den Beruf eines Rabbis so faszinierend machen. Jede Person ist anders, jede Person bringt ihre eigenen zores mit - ihre Probleme, ihre Zweifel, ihre Sorgen, und es ist jedes Mal eine Herausforderung, zu sehen, ob man helfen kann. Und nicht nur das, sondern: ob man als Rabbi helfen kann, als Repräsentant der jüdischen Tradition.
Natürlich ist man die meiste Zeit eher Berater, eine Schulter, an die der andere sich anlehnen kann, ein Helfer im Umgang mit Behörden - manchmal ist man als Rabbi sogar regelrecht eine Bankfiliale. Jeder praktische Arzt wird sagen, dass die Hälfte seiner Arbeit nicht darin besteht, Patienten zu behandeln, sondern darin, diese zu beruhigen - und dass ein bisschen roter Sirup oder ein paar weiße Pillen genau jene Wunder bewirken, die die wissenschaftliche Medizin auf pharmazeutischem Weg noch nicht erzielen kann. So geht es auch uns Rabbinern. Ist es wirklich wichtig zu wissen, was Moses gesagt hat, oder was einige Dorfrabbiner des fünften Jahrhunderts im Irak dachten, dass Moses gesagt haben könnte? Muss man wissen, was irgendein Kommentator in einer französischen Provinz im zwölften Jahrhundert dachte und was einige Akademiker des zwanzigsten Jahrhunderts darüber geschrieben haben, was der französische Kommentator dachte, dass Moses gesagt haben könnte? Ist es nicht viel wichtiger, mit dem richtigen Gesichtsausdruck und der angemessenen Geduld dazusitzen, wenn die Personen dir gegenüber zu erklären versuchen, was ihre Alkoholprobleme für sie bedeuten oder dass ihr Vater sie misshandelt hat oder dass ihre Ehemänner sie schlagen oder dass ihre Kinder sie nicht verstehen oder dass sie ein gutes Heim für die Großmutter suchen? Meine Tage sind mit solchen Dingen ausgefüllter als mit den alten Texten …
So ist das »wirkliche Leben«. Und wir sind mitten drin.
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