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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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geheiratet.
    Was mich betrifft, so wollte ich manchmal bei ihm sein und dann auch wieder nicht, er hatte ja mein ganzes Leben zerrissen. Nun hatte ich seine Adresse und machte mich auf, um ihn zu besuchen. Es war schwer, denn ich kannte ihn nicht, und er kannte mich ebenso wenig. Ich fing gerade mit dem Studium an. Aber etwas hielt uns zusammen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich mehr für ihn empfinden sollte. Er schrieb regelmäßig, und ich hätte häufiger antworten sollen, aber ich tat es nicht, ich konnte nicht. Ich habe ihn zwei- oder dreimal im Jahr hier besucht. Er kam zu meiner Hochzeit - aber er akzeptierte meine Frau nicht. Sie ist natürlich keine Jüdin. Sie kann - konnte - ihn nicht ertragen, das machte die Dinge schwierig, ich konnte ihn nie zu uns einladen. Aber er war immerhin mein Vater, obwohl er nicht mein Dad war. Meine Frau und ich taten, was wir konnten, kümmerten uns um ihn, soweit es möglich war, besorgten ihm den Platz im Heim …« Seine Stimme erstarb. Er hatte versucht, sich zu überzeugen, dass er wirklich alles Menschenmögliche getan hatte. Ich kenne das. Wir tun das alle. Und keinem gelingt es.
    Doch nun verstand ich die seltsamen Gespräche, die wir am Telefon und auf dem Parkplatz geführt hatten, ein bisschen besser, damals, als ich mich über die kühle Distanz seiner Reaktionen auf meine Beileidsbezeugungen gewundert hatte, und ich verstand auch, warum die Schwiegertochter nicht gekommen war. Alles, was ich gewusst hatte, war die Telefonnummer des Sohnes, die mir die Sekretärin des Heims gegeben hatte. Aber auch das ist nicht so ungewöhnlich.
    Zurück zu der Karte in meiner Hand. Meine Hand zitterte ein wenig. Ich legte die Karte auf den Tisch und beugte mich darüber. Es war eine einfache, vorgedruckte Postkarte. In einer Ecke klebte eine Briefmarke mit dem Hakenkreuz, darunter die Adresse »Mordechai Kalischer«, dann die Namen einer Straße und eines Dorfes, die beide kaum zu entziffern waren. Gott weiß, wie die Postbeamten damals zurechtgekommen sind. Auf der anderen Seite stand die Nachricht. »Mir sejnen gut ongekimn«. Wir sind gut angekommen. »Ich bin froh, dass die Fahrt vorbei ist. Wir werden bald Arbeit bekommen. Mach dir keine Sorgen. In Liebe, Beila.«
     
     
    Etwas Schweres lag in der Luft. Oder auf meinem Herzen. Riga 1942. »Arbeit.« Ich bin kein großer Historiker, aber ich weiß genug. Ich weiß, was man mit den Leuten gemacht hat. Ich habe gelesen, wie man sie zwang, eine Postkarte nach Hause zu schicken, bevor … bevor …
    Aufhören! Ich riss mich zusammen. Es gab noch weitere Karten, viele, viele. Ich nahm die nächste. Sie war anders. Es war eine einfache Karte, ohne Hakenkreuz, aber frankiert und gestempelt. Verblasst. Auf der Vorderseite die gleiche Adresse, aber auf der Rückseite »Liebster Momo«. Ich versuchte, die Schrift zu entziffern, runde hebräische Buchstaben, klein, ordentlich, die Handschrift einer Frau. Mit Bleistift geschrieben. Ich las laut und übersetzte dabei. »Ich bin sicher hier angekommen - sicher, nun, so ähnlich. Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Uns allen. Die Reise war - seltsam, aber jetzt - jetzt ist alles besser, in Ordnung. In Liebe, Beila.« Hmm. Ich schaute ein zweites Mal hin und bemerkte, dass weder ein Datum noch ein Ort als Absender angegeben waren. Ich nahm die nächste Karte vom Stapel.
    »Das sind interessante Zeitdokumente«, sagte ich zu meinem Besucher. »Sie sollten vielleicht überlegen, ob Sie die Karten einem Archiv geben. Vielleicht Yad Vashem in Jerusalem? Ich habe die Adresse. Oder einem Museum hier? Ich bin sicher, man würde sich dafür interessieren. Die Karten könnten aufbewahrt werden, konserviert und dergleichen.«
    Mein Besucher wurde rot. »Sie haben erst ein paar davon gelesen«, sagte er, »aber wenn Sie fortfahren, merken Sie schnell, was mich beunruhigt. Ich kann kein Jiddisch lesen, aber ich habe mir schon ein wenig zusammengereimt, als mir mein Vater erzählt hat - er tat es nur einmal -, dass diese Karten alle von meiner Mutter sind. Aber - können Sie weiterlesen?«
    Das Telefon klingelte. Dieses verdammte Telefon. Ich sprang auf, ich hatte fast vergessen, wo ich war. Die alten Postkarten hatten mich in eine andere Welt versetzt. Ich entschuldigte mich und hob den Hörer ab - unsere Sekretärin arbeitet nur vormittags, danach wird jedes Gespräch zu mir durchgestellt. Es war ein Notfall, ein Mitglied unserer Gemeinde hatte einen Autounfall, ob ich gleich zur

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