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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Oder wir glauben, es zu sein. Aber was ist das »wirkliche Leben« denn eigentlich?
     
     
    Der Mann saß in meinem Büro (ich versuche zwar, es weiterhin »Studierzimmer« zu nennen, aber jeder nennt es »Büro des Rabbiners«, also könnte ich es genauso gut aufgeben - ich habe es sowieso nie geschafft, hier irgendwelche Studien zu treiben). Er schien sich unbehaglich zu fühlen und war aufgeregt wie viele der Menschen, die zu mir kommen (eigentlich sind das die meisten). Nur wenige kommen freiwillig, um mit einem Rabbi zu sprechen, und das sind normalerweise jene, vor denen sich ein Rabbi hüten sollte: Drogenabhängige, Besessene, Missionare, Fanatiker. In solchen Situationen empfiehlt es sich, demjenigen eine Tasse Tee anzubieten, ein bisschen zu plaudern, ihn zu beruhigen und dann allmählich zur Sache zu kommen. Das einzige Problem ist natürlich, dass das zeitaufwändig ist, und das Telefon hört nie auf zu klingeln. Aber so ist das nun einmal.
    Ich kannte den Mann flüchtig. Er war kein regelmäßiger Gottesdienstbesucher, noch nicht einmal ein Gemeindemitglied. Er kam von irgendwo aus dem Süden des Landes. Vor ungefähr einem Monat, vielleicht auch mehr, hatte ich seinen Vater beerdigt. Er war ein älterer Mann gewesen, ein Holocaust-Überlebender, der seine letzten Lebensjahre im jüdischen Altersheim verbracht hatte. Wenigstens sein Körper hatte das getan. Je öfter ich dort bin - und die Besuche dort gehören zu meiner seelsorgerischen Routine -, umso deutlicher wird mir, dass die meisten Bewohner in Wirklichkeit ganz woanders sind. Irgendwo, wo man sie nicht erreichen kann. Sie sitzen da und starren, sabbern oder murmeln etwas vor sich hin. Ich werde nie vergessen, was eine Schwester einmal zu mir sagte, als ich zum ersten oder zweiten Mal in meiner Funktion als Rabbi dort war und mit ihr eine Tasse Kaffee in ihrem Kabuff trank. Ich hatte etwas in der Richtung gesagt wie: Mrs Soundso ist schwierig, sie hat nur vor sich hingemurmelt.
    Die Schwester antwortete darauf in scharfem Ton: »Warum glauben Sie, die Ärmste habe mit sich selbst gesprochen? Nur weil Sie nicht sehen konnten, mit wem sie sprach? Was glauben Sie denn, wie Sie aussehen, wenn Sie telefonieren?« Sie hatte natürlich recht gehabt. Vermutlich sehe ich wirklich blöd aus, wenn ich in mein Handy spreche, und die alte Mrs Soundso hat vielleicht nur Telefonkosten gespart …
    Nun, die Beerdigung war gut gelaufen. Ich hatte vorher mit dem Sohn des Verstorbenen telefoniert, der, wie gesagt, irgendwo im Süden lebte, ich hatte mir Notizen für den Hesped gemacht und ihn erst auf dem Parkplatz getroffen, kurz bevor wir den Friedhof betraten. Es waren ein paar ältere Mitglieder da gewesen als Trauergäste und der Sohn, das war alles. Routine.
    Jetzt, als der Sohn mir gegenübersaß, versuchte ich, mich krampfhaft an seinen Namen zu erinnern, aber er rettete mich aus der peinlichen Situation.
    »Rabbi, ich habe eine Frage. Können Sie Jiddisch lesen?«
    Das hatte ich nicht erwartet, aber ich antwortete: »Ja, allerdings langsam, nicht sehr gut, ein bisschen. Warum fragen Sie?«
    »Ich habe die Sachen meines Vaters geordnet«, antwortete er. Ich nickte - das ist immer eine schwere Zeit. Manches kann man verschenken, manches kann man wegwerfen, aber es ist immer eine schwierige Entscheidung, was man aufhebt und wo und warum, ganz zu schweigen von dem üblichen Problem, wer was bekommen soll - aber darauf will ich jetzt nicht weiter eingehen. Er fuhr fort: »Ich habe diese Postkarten gefunden und frage mich, ob Sie sie lesen können. Ich glaube, die Karten waren meinem Vater sehr wichtig. Nein, ich weiß sogar, dass sie das waren.«
     
     
    Er öffnete seine Brieftasche und nahm ein dickes Bündel heraus. Einige Karten, etwa ein Dutzend in jedem Päckchen, waren zusammengebunden und einige einzeln. Er legte alles ordentlich auf den Tisch und schob ein paar Postkarten zu mir. Ich nahm eine in die Hand und betrachtete sie. Mir lief es kalt den Rücken hinab.
    »Wissen Sie, was das ist?«, fragte ich und hielt die Karte hoch.
    »Ja«, sagte er. »Zumindest glaube ich, dass ich es ahne. Oder dass ich es ahnen sollte. Tut mir leid, dass ich in Rätseln spreche, Rabbi, aber das ist der Grund, weshalb ich hier bin. Ich bin mir einfach nicht sicher.«
    Wieder betrachtete ich die Karte. Ab und zu kommen Leute und bringen mir Dinge, wenn sie die Hinterlassenschaften ihrer Verstorbenen aufräumen, so wie dieser Mann es tat. Vielleicht denken sie: »Die

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