Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
Juden können so etwas brauchen.« Zum Beispiel stirbt eine alte Dame, und eine Nichte oder ein Neffe kommen von Amerika herübergeflogen, dann bringen sie mir einen alten Pass mit einem Reichsadler und einem Hakenkreuz, in den ein großes »J« gestempelt ist. Oder ein altes Gebetbuch mit vielen Notizen auf dem Vorblatt. Und einmal hatte man mir ein altes Kleidungsstück gebracht. Es war schmuddelig und hatte womöglich jahrzehntelang zusammengerollt unten im Schrank gelegen. Als ich es aufrollte, stellte es sich als eine weite, grob gewebte gestreifte Jacke heraus, auf die ein gelber Stern genäht war. Wie gesagt, man weiß nie, was die nächste Person anbringt oder welche Frage sie stellen wird.
     
     
    Diese Karte war ebenfalls alt. Verblasst, vergilbt. Die Adresse war in lateinischer Schrift, mit ordentlichen, gut geformten Buchstaben. Anders das Datum und der Rest … Ich kann, wie gesagt, nicht richtig gut Jiddisch lesen, aber wenn die Handschrift oder der Druck klar sind, finde ich mich mit Hilfe eines Wörterbuchs und meiner Deutschkenntnisse einigermaßen zurecht. Der Text war mit Bleistift geschrieben und nicht sehr deutlich, aber ich konnte immerhin gleich erkennen, wo und wann die Karte geschrieben war. »Riga, 14. Mai 1942«, las ich. »Lieber … lieber Momo?«
    »Ja, das stimmt«, sagte mein Besucher. »Das war offenbar sein Kosename, als er jung war. Das hat er mir einmal erzählt. Ich hätte Ihnen vielleicht vorher sagen sollen, vor der Beerdigung, dass mein Vater vorher schon einmal verheiratet gewesen war, seine Frau aber im Holocaust verloren hat - also meine richtige Mutter. Als kleines Kind war ich versteckt worden, und nach dem Krieg brachte man mich nach England. Ich müsste lügen, wenn ich sagte, dass ich mich an meine Mutter erinnere. Hier wurde ich von einer Pflegefamilie aufgezogen. Diese Menschen sind meine Familie, sind es immer gewesen. Meine Mum und mein Dad. Mein leiblicher Vater hatte, wie sich herausstellte, im Ghetto von Lodz irgendwie überlebt. Den Papieren zufolge, die ich gefunden habe - es war ein ganzer Ordner voll - kam er 1949 ebenfalls nach England. Das Rote Kreuz fand mich, der Kontakt zwischen uns wurde hergestellt, aber ich - nun, ich wollte bei ›meiner‹ Familie bleiben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, auch nicht ansatzweise, was das alles für mich bedeutet hat …«
    Er schwieg eine Weile. Sein Gesicht war rot, und seine Augen wurden feucht. Ich ließ ihm Zeit. Solche Dinge lassen sich nicht beschleunigen.
    Er fuhr fort. Ich konnte sehen, dass es ihm schwerfiel. »In Guildford hatte ich meinen Vater und meine Mutter. Meinen Dad und meine Mum. Plötzlich hatte ich dann aber noch einen anderen Vater, einen Ausländer, der Polnisch und Jiddisch sprach. Ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Ich kannte diesen Mann nicht. Ich erinnerte mich nicht an ihn, er erkannte mich kaum - ich weiß noch, dass ich weinte, dass ich schrie. Und ich erinnere mich an sein Gesicht, als ich schrie. Sogar jetzt noch.
    Ich wusste nicht, was damals verabredet wurde - ich war ja nur ein Kind -, er ging jedenfalls fort, und ich hörte nichts mehr von ihm, bis ich achtzehn war. Dann, an meinem Geburtstag, gaben mir Mum und Dad ein Päckchen. Darin waren Briefe. Ziemlich viele. Es hatte eine »Abmachung« gegeben, erfuhr ich. Gott weiß, was sie sich dabei gedacht haben und wie sie es geschafft haben, mit diesem Wissen zu leben, mit diesem Wissen, dass er irgendwo war und mir schrieb. Die Abmachung lautete jedenfalls, dass ich die Briefe erst mit achtzehn bekommen würde.
    Ich las sie alle. Erst wollte ich nicht, aber dann fing ich an zu lesen und konnte nicht mehr aufhören. Meine Eltern - meine Familie - hatten eine Geburtstagsparty für mich vorbereitet, sie hatten ein paar Freunde eingeladen. Aber ich wollte mein Zimmer nicht verlassen und hinuntergehen, ich saß an meinem kleinen Tisch, ich lag auf dem Bett und las diese Briefe. Er hatte sie über mehrere Jahre hinweg geschrieben - es war deutlich zu merken, dass sein Englisch besser wurde -, er schrieb über meine Mutter, meine leibliche Mutter, Beila, und über sich selbst. Weil er den Namen nicht mochte, den man mir hier gegeben hatte, vermied er es, ihn zu verwenden, er redete mich in seinen Briefen mit ›Lieber Sohn‹ an.
    Er hatte einen Job gefunden, hier oben - er wollte nicht im Süden bleiben, er hatte zugestimmt, sich von mir fernzuhalten -, und hier lebte er sein Leben. Er arbeitete in einem Laden und hat nie wieder

Weitere Kostenlose Bücher