Auf das Leben
Unfallklinik kommen könne? Natürlich …
Mein Besucher, der meine Antworten und meinen Tonfall mitbekommen hatte, fing bereits an, seine Karten zusammenzusuchen.
»Warten Sie«, sagte ich. »Es tut mir leid, es ist ein Notfall - aber ich würde gerne weiterlesen. Können Sie mir die Karten einen oder zwei Tage hierlassen?«
»Gerne«, sagte er. »Ich habe gehofft, dass Sie weiterlesen. Sehen Sie …« Ich nahm schon meinen Mantel vom Bügel, machte mich fertig, um ihn hinauszubegleiten. »Sehen Sie, irgendetwas ergibt da keinen Sinn. Und ich brauche Ihren Rat.«
»Können Sie morgen wiederkommen?«, fragte ich.
»Ja, ich bleibe ein paar Tage hier, um die Möbel und die Papiere in Ordnung zu bringen. Hier, nehmen Sie diesen Umschlag.«
»Dann kommen Sie doch morgen um zwei. Ich werde sehen, was ich bis dahin übersetzen kann.«
So begleitete ich ihn aus dem Haus und fuhr ins Stadtzentrum, zur Unfallklinik, um zu tun, was ich konnte. Was nie sehr viel ist.
Am Abend erinnerte ich mich an den Umschlag in meiner Brieftasche. (Das Unfallopfer hatte Glück im Unglück gehabt und war mit einem gebrochenen Bein und einem gebrochenen Arm davongekommen, Gott sei Dank, und vor allem musste ich keine Beerdigung organisieren.) Also nahm ich die Karten hervor und begann zu lesen. Langsam, denn manchmal wusste ich ein Wort nicht, oder ich konnte es einfach nicht entziffern. Die meisten Karten waren sehr ähnlich: Im Ton sehr einfach, routiniert, fast schematisch - aber was kann man schon auf eine Postkarte schreiben? Vielleicht waren die Karten ja auch zensiert worden. Alle begannen mit »Lieber Momo« und endeten mit »In Liebe, Beila«. Manchmal wünschte sie Momo einen schönen Geburtstag, oder sie schickte Grüße vom »Rabbi« oder von »Doktor Haring«, dann wieder beschrieb sie eine Begegnung mit irgendeiner Person, nichts wirklich Interessantes für einen Historiker, nur die normalen Bemerkungen einer einfachen Frau. Nach vielleicht zwanzig Karten taten mir die Augen weh vor Anstrengung, ich gab auf und steckte sie zurück in den Umschlag.
Am nächsten Tag Punkt zwei war mein Besucher wieder da. Ich hatte das Gefühl, die Dinge klarstellen zu müssen - von den Karten war nichts Weltbewegendes zu erwarten, nichts, was man veröffentlichen konnte, kein Ghettotagebuch, das sich verfilmen ließ … Deshalb sagte ich: »Ich habe ungefähr zwanzig Karten gelesen, aber sie sagen im Grunde alle das Gleiche.« Und ich erzählte, was ich mir über den Rabbi und Doktor Haring notiert hatte.
Er hörte ruhig zu und nickte. Dann fragte er: »Und was haben Sie sonst noch notiert?«
Ich war verwirrt. »Was meinen Sie?«
Er senkte den Blick. »Die Karten sind von meiner Mutter. Ich weiß es. Sie wurde deportiert - das weiß ich auch. Einmal, nur ein einziges Mal hat mir mein Vater ein bisschen mehr erzählt. Es war an seinem Geburtstag, ich besuchte ihn, brachte ihm einen Kuchen, ein paar Kleidungsstücke, ein Buch - und er zeigte mir eine dieser Karten. Sie lag auf dem Tisch. Ich konnte sie natürlich nicht lesen. Es - es ist eine der späteren. Die Adresse war in Englisch, die Adresse seiner Wohnung. Er sagte: ›Von deiner Mutter‹, dann stand er auf, ging zum Schrank und nahm den Deckel von einem Schuhkarton im oberen Fach und legte sie hinein. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, vermutete, er wolle nichts weiter dazu sagen, überhaupt sei er ein bisschen seltsam geworden. Ich erwähnte diese Karte nie wieder, und er hielt es genauso.
Bis wir ihn dann von der Wohnanlage ins Heim bringen mussten, nachdem er immer wieder gestürzt war. Er bat mich, seine Sachen für ihn zu packen, und verlangte ausdrücklich diesen Karton - also brachte ich ihn mit seinen anderen Habseligkeiten in sein Zimmer im Heim. Ich wusste, dass er ihn dort in seinem Nachttisch aufbewahrte. Neben seinen Tabletten. Ich musste die Tabletten oft kontrollieren, aber ich öffnete den Karton nie. Irgendetwas - irgendetwas hielt mich immer zurück.
Dann ging es mit seiner Gesundheit bergab. Vor vier, fünf, sechs Monaten. Ich kam ihn jedes zweite Wochenende besuchen, wenn ich mich von der Arbeit freimachen konnte - meine Frau war nicht glücklich darüber, aber ich sagte, er sei schließlich mein Vater. Die Krankenschwester hatte versprochen, seine Post aufzuheben, damit ich mich darum kümmern konnte. Rechnungen, Bankauszüge, Rentenbescheid, die üblichen Bettelbriefe, dieser ganze Mist - ob er dies oder jenes abonnieren wolle, ob er
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