Auf das Leben
eine billigere Autoversicherung wolle, Sie wissen, was ich meine. So was frisst eine Menge Zeit. Aber da waren auch diese Karten. Jeden Monat eine. An ihn adressiert, ans Heim, in deutlicher Schrift, mit der entsprechenden Zimmernummer und allem. Ich brachte sie ihm und legte sie ihm in die Hand. Er hielt sie fest - er packte die Karte und hielt sie fest, sogar dann noch, als ich nicht sicher war, ob er überhaupt noch wach war - und dann - wenn er sie losließ - legte ich sie in den Schrank. Ich machte den Deckel auf, legte die Karte hinein und schloss den Deckel wieder. So habe ich es immer gemacht.«
In meinem Büro wurde es still. Ich ertappte mich dabei, dass ich insgeheim darum betete, dass das Telefon jetzt nicht klingeln möge. »Sie meinen also«, sagte ich, »Sie meinen, diese Karten sind weiterhin gekommen? Über all die Jahre? Die ganze Zeit?«
»Das verstehe ich ja eben nicht«, antwortete er. »Ich bin sie durchgegangen. Nur oberflächlich. Das Jiddisch ist für mich nur Gekritzel. Die Karten sind nicht datiert. Aber manche waren an die Adresse in Fulham adressiert, manche nach Birmingham. Und viele kamen auch hierher - hier, Sie können es sehen. Einige haben ordentliche Briefmarken, englische, aus der Zeit vor dem Dezimalsystem, andere sind vorgestempelt. Ich glaube, es kam mindestens einmal im Monat eine, vielleicht sogar mehrere. Aber seit der Beerdigung keine einzige mehr. Ich frage mich …«
Wieder wurde es still. Ich war bestürzt. In meinem Inneren fühlte sich etwas kalt an. Ich betrachtete den Postkartenstapel auf meinem Tisch und deckte die Karten auf wie Spielkarten. Er hatte recht. Da waren welche, die mit Briefmarken von 1950 frankiert waren. Warum hatte ich das nicht bemerkt? Ich hatte natürlich nur die Rückseiten mit dem Geschriebenen betrachtet und hatte mir nicht die Mühe gemacht, die Briefmarken zu inspizieren …
Er räusperte sich. »Ich hätte gerne gewusst, ob auf einer dieser Karten etwas über mich steht.«
Ich spielte mit meinem Kugelschreiber. Jetzt betete ich darum, dass das Telefon doch klingeln möge. Die Stille war nur schwer zu ertragen. Ich wollte diese Karten nicht mehr anfassen. Ich wusste, dass ich die Stille unterbrechen musste, dass ich ihn etwas fragen musste, aber es war schwer, sehr schwer. Er starrte auf seine Füße. Ich wollte seinem Blick nicht mehr begegnen.
»Das ist also der Grund, warum Sie die Karten jetzt zu mir gebracht haben?«, fragte ich. »Oder war da noch etwas anderes?«
Er nahm einen braunen Umschlag heraus, öffnete die Klappe - sie war nicht zugeklebt - und schüttelte den Umschlag über meinem Tisch aus. Eine Postkarte fiel heraus. Ich hob sie hoch und betrachtete sie. Auf einer Seite - eine undefinierbare Landschaft. Auf der anderen - ein verblasster Poststempel über einer Briefmarke. Es stand etwas auf Englisch darauf, offenbar mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben. Ich begann zu lesen. »Lieber Sohn«, fing er an. »Deiner Mutter und mir geht es gut …«
Die Vergangenheit ist nicht vergangen
Es war nicht das, was ich von dem alten Mann zu hören erwartet hatte. Aber er wollte sprechen. Und er hatte mich um das Gespräch gebeten. Er habe mir etwas Wichtiges zu erzählen, hatte er gesagt. Er müsse darüber sprechen. Er sei alt, er würde nicht mehr lange leben und müsse es nun unbedingt jemandem erzählen.
Viele von uns haben beschämende Geheimnisse, die wir buchstäblich nicht mit ins Grab nehmen wollen. Normalerweise sind es ziemlich kleine, belanglose Dinge, die lange zurückliegen und schon längst von den anderen vergessen sind, die uns belasten. Im Lauf der Jahre werden sie immer schwerer und lähmen uns teilweise. Wir behalten sie in unserem Inneren, lassen sie wachsen wie einen Tumor und warten auf den, wie wir meinen, richtigen Zeitpunkt, um sie endlich loszuwerden. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt? Wenn wir noch sprechen können, noch atmen, aber nichts mehr zu verlieren haben? Wenn uns das offene Grab schon nahe genug ist, um die anderen Ängste zu verdrängen, vor allem die Angst davor, was die Leute sagen werden? So etwas habe ich oft erlebt, man nennt es Beichte auf dem Sterbebett - ich hasse diesen Ausdruck, er klingt so melodramatisch, aber dennoch: Ich habe oft mit Menschen zusammengesessen, die sich von einem unnötigen Gepäckstück befreien wollten, bevor sie sich auf die Reise machten, auf der man wirklich kein Gepäck mehr braucht. Ich habe als eine Art symbolischer
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