Auf das Leben
Mann passiert.
Das erste Problem war, dass die Dame, die nackt durch die Straßen lief, ungefähr achtzig Jahre alt war. Sie sprach kein Englisch, und sie wusste nicht, wer sie war. Deshalb hängte ihr der Mann seinen Mantel um, versuchte, sie zum Einsteigen zu überreden, und fuhr zur Polizeistation neben der Filiale von »Safeways«.
Hier hatten sie beides, Glück und Pech. Das Glück war, dass das Revier überhaupt offen und mit einem jungen, ziemlich sensiblen Polizisten besetzt war. Ihr Pech war, dass der erfahrene Polizeiwachtmeister, der dort sonst Schichtdienst machte, gerade frei hatte - das war einfach deshalb Pech, weil er die Dame erkannt und uns allen viel Ärger erspart hätte.
Alles, was die Dame am Leib trug, war eine Halskette mit einem Davidsstern, stellte sich bei Lichte besehen heraus. Der diensthabende Polizist war sensibel genug, um zu erkennen, dass es sich um ein jüdisches Symbol handelte, deshalb schlug er im Telefonbuch nach, rief in der Synagoge an, bekam vom Anrufbeantworter meine Nummer für Notfälle, und so erhielt ich um zwei Uhr nachts den Anruf …
Ich fand mich also in einem Raum mit einem Tisch und ein paar Stühlen wieder, mit einer jungen Polizistin, die froh war, nach ein paar Minuten wieder gehen zu können, und einer sonderbaren alten Dame, die in verschiedene Polizeiuniformteile und Fundsachen gehüllt war. Den armen Kerl, der sie hergebracht hatte, ließ man nach Hause gehen, nachdem er angegeben hatte, wo er sie gefunden hatte.
Es war klar, dass ich mit der Dame sprechen sollte, bevor jemand vom Sozialdienst sie abholen und in eine verfügbare Notunterkunft oder in ein Krankenhaus bringen würde. Zum Glück war es Sommer, es war also unwahrscheinlich, dass sie sich eine Erkältung zugezogen hatte oder an Unterkühlung sterben würde. Es war jedoch so, dass niemand die geringste Ahnung hatte, wer sie war und was man als Nächstes tun solle. Die englische Antwort auf jedwedes Problem - eine Tasse Tee - hielt sie bereits in der Hand.
Ich versuchte, mich ihr vorzustellen, aber das brachte nichts. Ich kannte sie nicht. Also versuchte ich, Deutsch mit ihr zu sprechen. Das funktionierte. Sie blickte auf, ihre Augen fokussierten mich, sie reagierte. Aber mein Deutsch war dürftig, und sie schien nicht viel sagen zu wollen, außer »Ja« und »Guten Morgen«. Es war kein guter Morgen, soweit es mich betraf … und im Hinterkopf war mir bewusst, dass ich heute zu einem Treffen nach London fahren musste, ich musste den Zug um zehn nach sieben erwischen. Inzwischen war es vier Uhr morgens, und wenn es so weiterging, war die Chance, diese Woche auch nur irgendeinen Zug zu erwischen, ziemlich gering. Genau wie die Chance, noch ein bisschen zu schlafen.
»Wie heißen Sie, wie ist Ihr Name?«
Es dauerte eine Weile und brauchte ein paar Wiederholungen, doch dann lächelte sie und sagte: »Dora Sara.«
Immerhin etwas, dachte ich. »Danke, Dora Sara. Und wie ist Ihr Familienname?«
Wieder machte sie einen verwirrten Eindruck, ihr Blick verschwamm, sie senkte die Augen. »Weiß nicht«, flüsterte sie, »weiß nicht.«
Ich versuchte es anders. »Wo wohnen Sie?«
»Weiß nicht, weiß nicht.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als dem Polizisten mitzuteilen, dass ich eine Weile hierbleiben würde und sehen, ob sich etwas änderte. »Verwirrt« ist noch höflich ausgedrückt, sie war offensichtlich in einem fortgeschrittenen Stadium der Demenz, und wir beschlossen, bis sechs Uhr zu warten, bis zum Schichtwechsel, und dann im jüdischen Altersheim anzurufen und zu fragen, ob jemand vom Personal kommen und sich vorläufig um sie kümmern könne. Tatsache war, dass sie in einem Stadtteil gefunden worden war, in dem etliche jüdische Familien wohnten, sie trug einen Davidsstern um den Hals und sprach - wenn überhaupt - Deutsch. Daher hielten wir das Howcroft House für den richtigen Ort, wo sie bleiben könnte, bis jemand nach ihr suchte.
Um sechs passierten drei Dinge nahezu gleichzeitig. Das Erste war, dass der Wachtmeister, gesegnet sei er, hereinkam. Es dauerte weniger als zwei Minuten, bis er über die Situation unterrichtet war, dann ging er zur Tür, um in das Nebenzimmer zu schauen. Das Zweite war, dass er sagte: »Ach ja, das ist Mrs Kramer, ist sie wieder mal hier?« Das Dritte war ein Anruf von Mrs Dorrity, die krank war vor Sorge, weil ihre betagte Mutter in der Nacht verschwunden war … Sie wohnte nicht weit von der Oswald Park Lane, also hatten wir das
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