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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Depots, aber das bedeutet, dass er dann weniger Soldaten hat, die er mit Gewehren an die Front schicken kann. Und so zwingt ihn die Partisanentaktik vielleicht dazu, dass er eine Division seiner Armee dort abziehen muss, wo er sie braucht, und sie dorthin bringt, wo du es notwendig gemacht hast.
    Das ist die Strategie aller Partisanen. Nicht kämpfen, sondern belästigen, zerstören und töten. Und nachdem mein schtetl verbrannt war - das ist aber eine andere Geschichte -, musste ich fort und ging in den Wald. Ich traf ein paar Leute und hatte Glück: Die nächsten anderthalb Jahre verbrachte ich mit dieser Partisanengruppe. Es war ein ziemlich hartes Leben. Töten ist auch ziemlich hart. Ich war jung, aber ich lernte schnell. Und ich war fit.
    Die Sache ist nun die - in meiner Gruppe benutzten wir keine Familiennamen. Dafür gab es viele Gründe. Vielleicht hatte ja jemand von deiner Familie überlebt, und wenn du geschnappt wurdest, konnten Verwandte verhaftet und bestraft werden. Aber in den meisten Fällen lag es daran, dass wir keine Familien mehr hatten, und es hätte zu sehr geschmerzt, die Namen von Familien zu benutzen, die es nicht mehr gab. Also benutzten wir nur unsere Vornamen oder Spitznamen oder sogar Decknamen.
    Und genau da liegt mein Problem. Ich möchte eine Gedenktafel für eine Frau bestellen, die für mich sehr wichtig war. Aber ich kenne ihren richtigen Namen nicht. Geht das trotzdem?«
    Das war natürlich ungewöhnlich. Aber bestimmt nicht ausgeschlossen, überlegte ich und nickte.
    Er fuhr fort: »Natürlich waren die Chancen zu überleben, sehr gering. Wir lebten ja die ganze Zeit versteckt. Im Sommer bedeutete das Staub, im Herbst Schlamm, und im Winter war es noch schlimmer, da lag Schnee, und man hinterließ Spuren, egal, wie vorsichtig man war. Und alle waren verängstigt, auch die Dorfleute, deshalb war die Gefahr, verraten zu werden, auch sehr hoch. Wir hätten das nur unterbinden können, wenn wir ihnen noch mehr Angst gemacht hätten als der Feind, aber das gelang uns nicht. Und wir alle wussten: Früher oder später würde der Feind uns finden, und es würde zu einem Kampf kommen, und er würde mehr Waffen und Munition und Lastwagen und Panzer haben als wir. Aber die Idee war ja auch nicht, für immer zu überleben - ich glaube nicht, dass wir je über ›nach dem Krieg‹ oder so etwas sprachen -, wir wollten nur so lange leben, damit wir ein paar andere umbringen konnten, bevor wir selbst getötet wurden. Sie hatten unser Leben zerstört, unser Zuhause, unsere Hoffnungen, unsere Familien - dafür wollten wir auch etwas zerstören. Natürlich gab es unter uns auch welche, die an eine Ideologie glaubten, und die Russen schickten Beauftragte, die uns überzeugen wollten, für die ›Sache‹ zu kämpfen, aber ich glaube, die meisten von uns hatten einfach die Vorstellung aufgegeben, irgendwann einmal ein normales Leben zu führen, zu arbeiten, eine Familie zu haben. Wir wollten einfach die Zeit nutzen, die wir noch hatten.
    Ich gehe nie im Wald spazieren - davon habe ich genug gehabt. Und als ich einmal zufällig einen Film über diesen Robin Hood sah, musste ich den Fernseher ausschalten. All diese netten Außenseiter, die so gut ernährt und so sauber und ordentlich angezogen aussehen! Damals habe ich meine Schuhe vier Monate lang nicht ausgezogen. Wir lebten in einer Gegend voller Insekten, krabbelnder und fliegender, warum sollten wir uns um ein bisschen Dreck oder um gelegentliche Läuse kümmern? Man musste bereit sein, immer, um schnell weglaufen zu können.«
     
     
    Wieder eine Pause. Ich hatte gelernt - eine schmerzhafte, aber wichtige Lektion -, dass es nicht immer notwendig ist, eine Pause zu unterbrechen. Warte einfach darauf, bis die andere Person es für dich tut.
     
     
    »Nun, ich war siebzehn Jahre alt und verliebt. Es gibt kein anderes Wort dafür, und ich möchte auch kein anderes Wort benutzen, Rabbi. Sie war ein paar Jahre älter als ich, sie kam von irgendwoher, weiter aus dem Norden als ich - sie hat mir nie gesagt, woher genau, und man hat auch nicht gefragt. Ich merkte es nur an ihrem Akzent. Sie hatte braune Augen und braune Haare und trug eine Baskenmütze. Und sie hatte ein wundervolles Lächeln. Sie hatte angefangen zu studieren, aber dann ging das nicht mehr. Ich weiß noch nicht einmal, was sie studiert hat. Sie hieß Hella - jedenfalls nannten wir sie so. Sie war eine echte Partisanin. Sie konnte mit einem Messer genauso gut wie mit einem Gewehr

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