Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
Himmelskörper, aber sie sagen nichts über die Gravitationskonstante G selbst.
UNVERÄNDERLICHKEIT – DAS BELIEBTESTE DOGMA
Wendet man den Gedanken von Ernst Mach auf die Gravitationskonstante G an, hätte ihr sehr kleiner Wert mit dem sehr großen Universum und der darin enthaltenen Masse zu tun. Eigentlich wurde dies durch die ersten Abschätzungen um 1930 glänzend bestätigt, als man den ungefähren Zusammenhang ≈ c 2 feststellte, wobei M und R für die Masse und den Radius des Universums sowie c für die Lichtgeschwindigkeit stehen. Es ist eigentlich verwunderlich, dass diese Koinzidenz damals nicht mehr Aufmerksamkeit erregt hat. Einstein war um diese Zeit sehr mit seiner einheitlichen Feldtheorie beschäftigt und vielleicht von der Kosmologie frustriert, weil sich seine kosmologische Konstante, mit der er ein statisches Universum zu rechtfertigen suchte, als nutzlos herausgestellt hatte. Über einen Zusammenhang von G mit dem Universum dachte er offenbar nicht nach. Dabei ist eine Idee naheliegend, die der Kosmologe Dennis Sciama 1953 entwickelte. Der Wert des Gravitationspotenzialseiner Masse M im Abstand r wird schon seit Newton zur Berechnung von Planetenbahnen verwendet. Sciama stellte fest, dass das Gravitationspotenzial des gesamten Universums ungefähr dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c 2 entspricht, und gab damit der oben erwähnten Koinzidenz einen zusätzlichen Sinn. 64 Dennoch misst die Mehrheit der Physiker dem heute keine Bedeutung mehr bei.
Lange nach Ernst Mach machte sich Paul Dirac Gedanken zur Gravitationskonstanten, als er sich in den 1930er Jahren der Kosmologie zuwandte. Dirac war bei aller Genialität ein Sonderling, dessen Schweigsamkeit seine Forscherkollegen oft zur Verzweiflung brachte: Man spottete, sein Wortschatz bestehe nur aus „Yes“, „No“ und „I don’t know“. Als ihm der Astrophysiker Fred Hoyle einmal am Telefon eine Frage stellte, entgegnete Dirac: „Ich werde jetzt den Hörer hinlegen, dann eine Minute nachdenken und ihn dann wieder aufnehmen.“
Aus einer Überlegung heraus, die wir im letzten Abschnitt noch besprechen, folgerte Dirac 1938, dass die Gravitationskonstante abnehmen sollte, und zwar in der Größenordnung von einem Zehnmilliardstel pro Jahr. Dies entspricht grob den seit dem Urknall vergangenen gut zehn Milliarden Jahren, wenn man von einer gleichmäßigen Entwicklung ausgeht. Eine solche Änderung konnte man allerdings bisher nicht finden, insbesondere nicht mit den Viking-Sonden, die in den 1970er Jahren auf dem Mars landeten und den Abstand zu unserem Nachbarplaneten auf wenige Meter genau vermaßen. Würde die Gravitationskonstante tatsächlich kleiner werden, so hätte dieser Abstand während der Dauer der Mission etwas anwachsen sollen. Von den meisten Gravitationsphysikern höre ich daher das reflexartige Argument, Diracs ‚Theorie‘ sei ruled out , das heißt durch präzise Beobachtungen ausgeschlossen. Nur: Es gibt Diracs Theorie gar nicht. Er vermutete nur aus allgemeinen Überlegungen heraus einen Zusammenhang, ohne sich um die etablierten Ansichten zu kümmern – ähnlich wie die Ideen von Kopernikus der Unveränderlichkeit des Sternenhimmels widersprachen. Kopernikus’ ‚Theorie’ der Kreisbahnen um die Sonne war durch die damaligen Beobachtungen übrigens auch ruled out . Denn das geozentrische Weltbild mit seinen vielen Hilfsannahmen beschrieb alles viel genauer. Man sollte also vielleicht doch lieber versuchen, ob sich Diracs Gedanke zu einer Theorie ausbauen lässt, anstatt ihn vorschnell zu verwerfen.
Neben den astronomischen Effekten müsste eine Abnahme der Gravitationskonstanten auch eine leichte Expansion der Erde bewirken. Pascual Jordan, einer der wenigen, die an Diracs Ideen weiterarbeiteten, untersuchte diese Konsequenz um 1955 etwas genauer. Jordan hatte früher nobelpreisverdächtige Beiträge zur Quantenmechanik geliefert, jedoch machte es seine in der NS-Zeit nicht gerade weiße Weste dem Komitee wohl schwer, ihn zu berücksichtigen. In der Sache finde ich die Hypothese der Erdexpansion faszinierend, obwohl sie heute als völlig exotisch gilt. Jedenfalls enthalten die Kapitel 34 und 35 von Jordans Buch Schwerkraft und Weltall eine Reihe diesbezüglich hochinteressanter Fakten. Mit GPS-Daten kann man heute schon die Kontinentaldrift vermessen, die allerdings viel größere Bewegungen verursacht als eine mögliche Expansion der Erde. Hier sollte man genau hinsehen. 65
DREIFACHE EINFALT WIRD
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