Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
gemessen zu haben. Aber niemand hörte ihm mehr zu, das Gebiet der Gravitationswellenphysik hatte durch die Kontroverse an Reputation verloren.
GIGANTISCHE GENAUIGKEIT
Dieser zweifelhafte Ruf hing sogar noch einer ganz neuen Generation von Detektoren an, als über den Bau des gigantischen Interferometers LIGO entschieden wurde: Die Investition von mehreren Hundert Millionen Dollar, das bis dato größte Einzelprojekt der National Science Foundation, stand auf der Kippe, und die Astronomen, denen dieses Geld dann auch fehlen sollte, waren rundweg dagegen. Solche Interferometer messen heute mit Lasern winzigste Längenveränderungen, die von Gravitationswellen ausgelöst werden könnten. Man stellt sie an verschiedenen Orten auf, um das Fehlerrauschen mit der Methode der koinzidenten Signale zu reduzieren: LIGO besteht aus mehreren Anlagen, die jeweils 2 bis 4 Kilometer lange, zueinander senkrecht orientierte ‚Arme‘ haben, deren Längenveränderung auf ein Hundertmillionstel eines Atomdurchmessers gemessen werden kann – eine technische Glanzleistung. Es fehlten nur noch die Wellen.
Am meisten verspricht man sich dabei von jungen Pulsaren, deren Abbremsung auf die Aussendung von Gravitationswellen hindeutet, und Ende 2007 wurde endlich die dafür nötige Messgenauigkeit erreicht. Das Ergebnis der zwei Jahre währenden Datenauswertung: nichts. 120 Die Frustration ist zu spüren, wenn die Forscher statt des ersehnten Nachweises nur von einer Grenze berichten können, bis zu der dieser nicht gelang. Konkret: Bei dem berühmten Pulsar im Krebsnebel, jenem Überrest der schon im alten China beobachteten Supernova, hätte man längst Gravitationswellen sehen sollen, selbst wenn sie nur für zwei Prozent der beobachteten Abstrahlungsleistung verantwortlich wären. Der Pulsar verliert also mindestens fünfzig Mal mehr Energie auf andere Weise. Das ist beunruhigend, weil es offenbar einen bisher unterschätzten Mechanismus gibt, der alleine für die Abbremsung sorgen könnte – ganz ohne die Gravitationswellen, die sich nicht zeigen wollen. In Ermangelung positiver Signale beschäftigen sich die Wissenschaftler nun mit ‚Testinjektionen‘ in die Daten, um die Auswerter zu prüfen, damit sie auch ja nichts verpassen. Sie können einem fast leidtun. Was ist, wenn es Gravitationswellen gar nicht gibt?
VERWALTUNG DER HILFLOSIGKEIT
Theoretisch versteht man die Vorgänge insgesamt nicht besonders gut, die Pulsare langsamer machen. So ist beispielsweise unklar, warum es zwei so unterschiedlich schnell rotierende Populationen von Pulsaren gibt – normale, die sich etwa im Sekundentakt drehen, und die etwa hundertfach schnelleren Millisekunden-Pulsare. Damit nicht genug, man fand kürzlich eine Klasse von Pulsaren, deren Magnetfeld noch tausendmal stärker ist als das ohnehin schon riesengroße der normalen Sorte. Ein solcher ‚Magnetar‘ würde Flugzeugträger herumwirbeln wie Kompassnadeln und noch in hunderttausend Kilometern Entfernung Kreditkarten demolieren. [40] Allerdings erschließt man das unglaubliche Magnetfeld der Magnetare nur aus der Abnahme ihrer Rotationsgeschwindigkeit.
Solche indirekten Evidenzen, die plausibel, aber auch nicht zwingend sind, nehmen generell in der Astronomie etwas überhand. Man erfindet hier letztlich neue Objekte, weil man etwas nicht versteht, und die Kriterien der Einteilung leuchten nicht immer ein. Wird ein Pulsar zu stark abgebremst? Ist also ein Magnetar. Ist eine Supernova zu hell? Ist also eine Hypernova. Meist erklärt der neue Name aber nicht quantitativ die Eigenschaften, sondern beschreibt nur einen Mechanismus, wie es funktionieren könnte – oft genug mit merkwürdigen Begleiterscheinungen. So würden angeblich Atome in einem Magnetar auf ein Zweihundertstel ihrer Dicke gequetscht. Wer kann ernsthaft behaupten, dass wir uns in so extremen Bedingungen auf die Modellrechnungen verlassen können?
Immer mehr gerät in Vergessenheit, dass auch die ganz grundlegenden Theorien der Physik – Quantenmechanik, Elektrodynamik und Allgemeine Relativitätstheorie – keineswegs vollkommen gesichert sind. Jedenfalls widersprechen sie sich gegenseitig. In der Elektrodynamik sind die Abstrahlungsgesetze nicht genau bekannt, können wir also bei Gravitationswellen so sicher sein? Aber wieder ist man kaum bereit, die Theorie zu hinterfragen, die ihre Existenz voraussagt.
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Gewissheit ist einer der billigen Gebrauchsartikel, und sie kann augenblicklich erlangt werden,
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