Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
der Methodik dominiert. Nachdenkliche Stimmen werden dann nur als Störung empfunden, vor allem wenn man endlich eine Entdeckung verkünden will. Aber man kann nicht eine Grundfrage der Physik mit ein paar Handvoll Signalen beantworten, wenn ein tausendfach größerer Hintergrund mit teils fragwürdigen Methoden als Störung herausgefiltert wurde. Der Wunsch, die Ersten im Wettrennen zu sein, konkurriert mit der Notwendigkeit sorgfältiger Prüfung, und viele Mängel der Methodik sind nicht auf die Schnelle zu beheben, selbst wenn man wollte. Wie in anderen Gebieten auch kann es wirkliche Gesundung nur dann geben, wenn die Bearbeitung der Rohdaten komplett offengelegt wird und die Auswertung von einer beliebigen Anzahl von Wissenschaftlern nachgeprüft werden kann. Auch wenn der Einzelne noch so gewissenhaft arbeitet – undokumentierte Methoden sind eine Einladung zur Schlamperei.
DUNKLE AUSSICHTEN
In einer TV-Debatte mit dem bekannten Astrophysiker Simon White 139 stellte Pavel Kroupa die etwas provokative These auf, in den nächsten fünf Jahren werde ein Teilchen gefunden, das man als Dunkle Materie erklärt . Diese Gefahr ist durchaus real, denn wenn bei den Detektoren die Methodik so im Argen liegt und nicht sauber definiert wird, was noch als Nichtentdeckung gilt, wird irgendwann fast zwangsläufig ein falsch korrigierter Hintergrundeffekt für ein Teilchen gehalten werden. Die Erwartungen sind hier alles andere als neutral: Wer wünscht sich schon den Misserfolg, dass immer bessere Technologie in immer genauere Bereiche vordringt und nichts dabei entdeckt?
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Niemand hat je einen Nobelpreis für den Nachweis gewonnen, dass etwas nicht existiert, oder weil er gezeigt hat, dass etwas anderes falsch war. – Gary Taubes, Wissenschaftsautor
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Ebenso wenig ist ausgeschlossen, dass einer der Detektoren oder der Large Hadron Collider in Genf irgendetwas findet. Der innige Wunsch der Physiker, das Rätsel der Dunklen Materie zu lösen, wird den nötigen Druck ausüben, die astrophysikalischen Anomalien zu erklären – egal wie widersprüchlich die Daten dort bleiben. Eines ist jedenfalls sicher: Sind erst einmal zwei bis drei Kandidaten für die Dunkle Materie etabliert , kann man sicher alle Beobachtungen mit diesen zusätzlichen Freiheiten interpretieren.
Sollte sich diese dunkle Wunschvorstellung nicht erfüllen, haben die Theoretiker aber schon eine Generalausrede in der Hinterhand: den sogenannten dark sector , der es auch schon zu einem Wikipedia-Eintrag geschafft hat. Er besteht aus Teilchen, die sich nur gravitativ bemerkbar machen und ansonsten per Konstruktion unsichtbar sind. Ach ja: Die meisten Stringtheorien sagen in diesem dark sector irgendetwas vorher. Eine bessere Steilvorlage hätte man Robert Sanders nicht liefern können, der die endlose Suche einer Fundamentalkritik unterzieht: 140
„Das wirkliche Problem ist: Dunkle Materie ist nicht falsifizierbar. Der Einfallsreichtum und die Einbildungskraft der theoretischen Physiker kann jeder astronomischen Nicht-Detektion mit der Erfindung neuer Kandidaten begegnen.“
Karl Popper, mit seiner Falsifizierungsforderung der Hüter der wissenschaftlichen Methode, hätte sich über Sanders’ Scharfblick gefreut. Auch in der Astrophysik ist dringend eine Reflexion nötig, ob uns die gängige Praxis noch zu grundlegenden Entdeckungen führen kann.
PATEN DER KOMPLIZIERUNG: NEUTRINOS UND DAS ENTSTEHEN IHRER FAMILIENBANDE
Kein Neutrinophysiker zweifelt heute ernsthaft daran, dass sich die drei Sorten Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino ineinander umwandeln können: Die erwähnten Neutrino-Oszillationen gelten als beobachtet. Als ‚direkte Evidenz‘ werden dafür die Resultate des Sudbury Neutrino Observatoriums SNO angesehen. 151 Seine Besonderheit liegt im Detektormaterial: aus kanadischen Kernkraftwerken stammendes Schweres Wasser. Dieses enthält zahlreiche Deuteriumkerne, die aus je einem Proton und einem Neutron bestehen. In vielen Materialien machen sich Neutrinos dadurch bemerkbar, dass sie Elektronen einen kräftigen Stoß versetzen, welche dann ihre Energie gut sichtbar abgeben. Die Besonderheit des Deuteriums liegt dagegen darin, dass es durch ein Neutrino in seine Bestandteile Proton und Neutron gespalten wird, und in manchen Fällen hilft das Neutrino dem verbleibenden Neutron sogar, sich unter Aussendung eines Elektrons in ein weiteres Proton zurückzuverwandeln – ein dem üblichen Betazerfall analoger Prozess, den man am SNO sowohl
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