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Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)

Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)

Titel: Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Unzicker
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von der reinen Spaltung als auch von dem Elektronenstoß gut unterscheiden konnte. Dabei stellte sich heraus, dass reine Spaltungen viel häufiger vorkamen als Elektronenstreuung und Spaltungen mit Neutronenumwandlung. Da für Letztere allein die Elektron-Neutrinos verantwortlich seien, so die Interpretation, könne die geringe Häufigkeit nur so erklärt werden, dass das Elektron-Neutrino sich in einen seiner Kollegen, nämlich Myon- oder Tau-Neutrino, umgewandelt habe.
    Nur: Woher weiß man, wie gerne diese beiden mit einem Deuteriumkern reagieren, wenn es dazu kein unabhängiges Experiment gibt? Zwar behilft man sich mit Rückschlüssen aus anderen Daten, aber im Wesentlichen basiert die Argumentation auf theoretischen Überzeugungen, wie ‚sensitiv‘ eine Reaktion für die jeweiligen Neutrino-Typen ist. Es ist etwa so, als wenn man einen Schuster, einen Schreiner und einen Schneider mit unterschiedlich viel Geld in der Tasche antrifft und infolgedessen einen Beteiligten wegen Diebstahls verurteilt: Es sei ja bekannt, was sie normalerweise verdienen und ausgeben. „Direkte Evidenz“, wie im Titel der Veröffentlichung zu lesen, ist aber doch reichlich übertrieben.
    Es ist schon bemerkenswert, welch filigrane Ketten von Annahmen und Schlussfolgerungen heute die Überzeugungen über die elementarsten Naturerscheinungen begründen. Fordern Sie einmal einen Experten auf, die Ergebnisse des SNO-Experiments prägnant zusammenfassen. Auch John Bahcall, einem herausragenden Neutrino-Theoretiker und Berater des Nobelkomitees, gelingt dies nicht so recht. 152 Stattdessen wird einem oft schon im ersten Atemzug versichert, Neutrino-Oszillationen seien längst allgemein anerkannt, und weiteres Verständnis sei allein dadurch zu gewinnen, die Wahrscheinlichkeiten für die Umwandlung, genannt Mischungswinkel, zu bestimmen. Zweifellos kann man dabei neue Zahlen produzieren.
ENTDECKUNG MIT BRACHIALGEWALT
    Im Jahr 1962 erschien die Idee, es könne mehr als eine Neutrinosorte geben, noch reichlich verrückt. Einziger Hinweis war damals, dass Myonen, die zu Elektronen zerfallen, ihre überschüssige Energie offenbar nicht mit einem Photon loswerden wollten, obwohl man das erwartet hatte. Wie so oft suchte man die Erklärung für das unverstandene Phänomen in einem unbekannten Teilchen, und ein neuer Teilchenbeschleuniger am Brookhaven National Laboratory weckte bei den Experimentatoren Leon Lederman, Mel Schwartz und Jack Steinberger den Ehrgeiz, danach zu suchen.
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    Die Heilmittel sind ein Teil der Krankheit selbst. – Oscar Wilde
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    Dort konnte man viele Neutrinos als ‚Abfallprodukte‘ hochenergetischer Teilchen erzeugen, und als Detektor diente die kurz zuvor erfundene Funkenkammer: Geladene Teilchen aller Art hinterlassen darin Bremsspuren in Form ionisierter Luftmoleküle, die man elektronisch aufzeichnet. Um jedoch die zahlreichen störenden Teilchenarten gar nicht erst in den Detektor gelangen zu lassen, stellte man eine 13 Meter (!) dicke Stahlwand auf, die aus einem abgewrackten Kriegsschiff stammte. Als weiterer elektronischer Türsteher, der unerwünschte Teilchengäste von dem Detektor fernhalten sollte, diente ein sogenannter Antikoinzidenzzähler, ein unentbehrliches Hilfsmittel vieler Experimente. Dieser vergleicht nämlich, ob ein Teilchen auch zeitnah durch einen Kontrolldetektor außerhalb des eigentlichen Experiments gegangen ist; wenn ja, wird das Signal hinauskomplimentiert. Denn interessant sind allein die im Detektor entstandenen Teilchen – bei der Geburt lassen sie sich am besten beobachten.
    Weil Myonen der Vermutung nach Myon-Neutrinos erzeugen, versuchte man aus diesen in einer Rückwärtsreaktion wieder die ursprünglichen Myonen herzustellen. Um diese im Detektor zu identifizieren, mussten Lederman und seine Mitarbeiter aber ausgiebig aussortieren: 153 Die 1,6 Millionen Pulse des Beschleunigers, die größtenteils aus 25 ‚guten‘ Tagen innerhalb des Messzeitraums von acht Monaten stammten, lösten ca. 5000 Fotografien aus. Über die Hälfte davon war schwarz, die Mehrzahl der restlichen wurde Myonen zugeordnet, die durch die Abschirmung geschlüpft waren, und etwa 400 Fotoplatten berücksichtigte man nicht, weil sie trotz aller Filter durch Signale aus der kosmischen Höhenstrahlung kontaminiert waren. Übrig blieben 29 Ereignisse, bei denen ein Myon ohne erkennbaren Grund entstanden war. Sie galten daher als Spur des gesuchten Myon-Neutrinos. 29 von insgesamt hundert Billionen

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