Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
theoretischen Wunschvorstellung sucht. Dafür, ob ein Prozess ‚sauber genug‘ ist, um als Entdeckung zu gelten, wie zum Beispiel beim W-Boson, gibt es eben keine sauber definierten Kriterien. Der Nobelpreis hierfür, den Carlo Rubbia 1984 erhielt, belohnte jedenfalls nicht Sorgfalt, sondern Schnelligkeit. Denn Rubbia hatte nachweislich schlechtere Daten als seine Konkurrenz, die er aber durch bauernschlaue Tricks davon abhielt, vor ihm zu publizieren. 191
GOTTESTEILCHEN, SERVIERT IM SCHMUTZMANTEL
Was soll man nach alledem zu der Entdeckung auf Raten des Higgs-Bosons sagen? Zweifel weckt schon der Anspruch, den ‚Hintergrund‘, ein störendes Rauschen, das ein Signal vortäuscht, gut entfernen zu können. Denn die einzig verbliebene Möglichkeit, das Higgs mit dem Zerfall in zwei Photonen nachzuweisen (andere Prozesse hatte man vorher ausgeschlossen), wird von Teilchenphysikern einhellig als ‚der schmutzigste Kanal‘ bezeichnet. Es ist bizarr, dass das Higgs identifiziert werden soll, indem es sich in zwei Gamma-Lichtquanten umwandelt – das tun praktisch alle Teilchenpaare. Eine aberwitzig primitive Hürde für ein Teilchen, das angeblich so spezielle Eigenschaften hat: Man halte sich vor Augen, dass andere Prozesse ein zum Higgs-Boson identisches Signal erzeugen, das billionenfach (!) stärker ist. All dies meint man durch Filterungen und Computersimulationen herausrechnen zu können – schwer zu glauben, dass so eine ehrgeizige Datenreduktion wirklich beherrschbar bleibt.
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Wie Ereignisse analysiert wurden und welche Ressourcen der Sortierung und Strukturierung der Informationsflut aus einem großen Experiment gewidmet wurden, konnte … entscheiden, ob und wann eine Entdeckung gemacht wurde. 192 – Peter Galison, Wissenschaftshistoriker
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Die angegebenen hohen Wahrscheinlichkeiten, mit denen Entdeckungen im Allgemeinen gerechtfertigt werden, beziehen sich übrigens auf zufällige Abweichungen, nicht auf mögliche Fehler in der Modellierung. Ganz sicher ist dabei nur eines: Je mehr Hintergrund entfernt wird, desto größer wird die Gefahr, Artefakte zu erzeugen, die Teilchen vortäuschen – vor allem wenn die Theoretiker dafür längst Namen zur Hand haben.
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Hierin liegt eine Abwägung, dass genug getan wurde, damit Untergrundeffekte das Signal nicht produzieren können. Wissenschaftler vermeiden es in ihrem retrospektiven Urteil, diese Abwägung zu erwähnen. – Andrew Pickering
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Nichts hindert beispielsweise daran, ein Higgs-Signal als Quark-Antiquark-Paar einer noch unbekannten vierten Quark-Familie zu interpretieren, vor allem wenn man, wie beim Higgs, die Ausrede bereithält, nur ein winziger Anteil zerfalle auf diese Weise. Nur stehen Quarks derzeit nicht auf der theoretischen Wunschliste, während das Higgs seit Jahrzehnten verzweifelt gesucht wurde. Dabei hat man sich bei seiner Masse alle Möglichkeiten offen gehalten: Als Entdeckung des Teilchens gilt, in irgendeinem Energiebereich ein paar mehr Signale zu finden, als man versteht. Fast jede unbekannte Spur im Schnee wird so zum Beweis für den Yeti.
Ansonsten ist der ‚Higgs-Mechanismus‘ unbeleckt von jeglicher tieferen Reflexion über Gravitation, und deswegen sagt auch die Entdeckung des Higgs nicht das Geringste darüber aus, warum die Massen der Elementarteilchen die beobachtete Größe haben. Anstatt über ihre Zahlenwerte kann man sich dann über die Stärke der Anbindung an das ‚Higgs-Feld‘ wundern – was für ein Fortschritt. Ich glaube einfach nicht an solche Flickwerk-Physik. Gefunden hat man allerdings schon vieles.
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Der schlimmste Fall ist die experimentelle Übereinstimmung einer falschen Theorie mit schwammigen Vorhersagen. – Bert Schroer, theoretischer Physiker
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Für den Fall, dass die Entdeckung des Higgs doch noch revidiert wird, hat man aber auch schon Plan B in der Hinterhand, zum Beispiel ein ‚Higgs-Multiplett‘, also mehrere Higgs-Teilchen mit höherer Energie und noch geringerer Reaktionswahrscheinlichkeit, hinter der sie sich verstecken können. Selbstredend benötigt man zu ihrer Entdeckung einen neuen Beschleuniger …
DIE STUNDE DES KONJUNKTIVS IN GENF
Interessant sind aber schon die Hintertürchen, die bei der Bekanntgabe der Higgs-Beobachtung offengelassen wurden: CERN-Chef Rolf-Dieter Heuer verglich das Teilchen mit einem Freund, den man aus der Ferne sehe. Leider sei man noch nicht ganz sicher, ob es sich nicht auch um dessen Zwilling handeln könnte. Und wie
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