Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
wäre es mit einem entfernteren Verwandten? In Wahrheit wird doch jedes Signal mit offenen Armen begrüßt, aber wie das Standardmodell-Higgs-Boson genau aussieht, entscheidet man am besten erst, wenn der Fremdling nähergekommen ist – nach gründlicher Untersuchung, versteht sich. Wenn sich das Teilchen dann doch ganz anders benimmt als erwartet, wird es den theoretischen Physikern nicht an Chuzpe fehlen, eine schlicht falsche Vorhersage in ein Resultat umzudeuten, das noch viel spannender sei, weil es auf Physik ,jenseits des Standardmodells‘ hindeute: Wir gratulieren uns, dass wir etwas nicht verstanden haben! Dass der Rest der Wissenschaft dies nachbetet und die Öffentlichkeit weiterhin glaubt, es handle sich um fundamentale Erkenntnisse, muss man zumindest befürchten – es geht ja schon eine ganze Zeit so. Zu bitter wäre wohl die Einsicht, dass das ganze Modell längst an seinen ‚Erfolgen‘ krankt. Denn es handelt sich in Wirklichkeit nicht um eine wohldefinierte Theorie, sondern um ein unkontrolliert wachsendes Gebilde, das schon viele unverstandene Resultate in neuen Ausbeulungen verdaut hat. Standardmodell heißt in Wirklichkeit das System selbst, sich mit immer neuen Ad-hoc-Annahmen an die Daten anzupassen wie ein ständig mutierendes Virus.
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Auch ein gelehrter Mann studiert so fort, weil er nicht anders kann. So baut man sich ein mäßig Kartenhaus. Der größte Geist baut’s doch nicht völlig aus. – Johann Wolfgang von Goethe
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Seit der LHC in Betrieb ist, wächst die Ungeduld nach greifbaren Ergebnissen – ein ungesunder Erwartungsdruck, der auf dem Experiment lastet und der sicher ein bisschen die Lust verdirbt, eine ersehnte Entdeckung auf systematische Fehler zu prüfen. Anders als bei den überlichtschnellen Neutrinos, die die gesamte Physik demontiert hätten, tut das Higgs ja niemandem weh. [58] Vielleicht hätte man den Nobelpreis schon allein für die technische Leistung vergeben sollen, dann wäre das Arbeiten entspannter. Irgendetwas messen? Yes we can . Schließlich erhielt Obama den Nobelpreis auch für die Erwartungen an seine Amtszeit.
Und so werden wir weiterhin erleben, dass jedes kleine Detail in den Daten lautes Geschnatter auslöst. Dass dahinter die Absicht steckt, die Medienaufmerksamkeit am Köcheln zu halten, will ich gar nicht unterstellen. Befremdlich ist jedoch, wie schnell die Physik jeder noch nicht trockenen Messung den Mantel der Begründung umhängt. Die Theorien lechzen nach jedem Datentropfen, der oft noch am gleichen Tag von einem Paper auf ArXiv.org aufgesogen wird, ohne dass man hoffen kann, die Wüste der unverstandenen Effekte werde jemals durch Erklärungen grünen. Dass auf ein Ergebnis keine theoretische Beschreibung passt, ist unvorstellbar geworden, und das ist auch das Problem des Large Hadron Collider – seine Resultate sind beliebig interpretierbar.
DAS MITTELALTER IST NÄHER, ALS MAN DENKT
Auch wenn ich hier einen Aufschrei riskiere: Die Teilchenphysik weist inzwischen Parallelen zur Astrologie auf. Exotische Eigenschaften wie ‚Strangeness‘ oder ‚Isospin‘ definieren ja das Teilchen als solches, und insofern geht es nur mehr um die bloße Existenz und die Einteilung in ein bestehendes Muster – so, wie es bei einem neu entdeckten Stern lediglich darauf ankam, seine Himmelsposition einem bekannten Sternbild zuzuordnen. Ist der ‚Achtfache Weg‘ des Quark-Modells wirklich so verschieden von den zwölf Tierkreiszeichen? [59] Einen Platz findet man immer, ob als sechste Zehe des großen Bären oder als Laus im Pelz des Herkules – aber so, wie diese Bilder die Himmelssphäre abdecken, stehen heute zu jedem Energiebereich Theorien mit ihren Variationen bereit, sich die Ergebnisse mit einer Portion Fantasie einzuverleiben, sei es als vierte Quarkgeneration oder fünfte Kraft. Tatsächlich hat doch jede unerwartete Messung der letzten Jahre sofort ‚plausible‘ theoretische Interpretationen generiert, auch wenn sie sich dann meistens als statistische Sternschnuppe herausstellte. Das Standardmodell ist unfähig, der Masse eines Teilchens Sinn zu geben, so, wie die Astrologie nichts mit der Leuchtkraft eines Sternes anfangen kann.
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Alles, was sich sagen läßt, läßt sich klar aussprechen. 193 – Ludwig Wittgenstein
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So, wie sich Astrophysik von Astrologie unterscheidet – durch Farbdiagramme, Helligkeitsberechnungen und Erklärungen wie Kernfusion, kurz: durch die Physik der Sterne –, so viel fehlt dem
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