Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
eine Bibliothek. »Hallo! Ist jemand da?«
Marnie hielt das nicht unbedingt für die beste Strategie, fühlte sich aber von Laverne mitgezogen. Vielleicht war das die einsetzende Wirkung der Schmerztabletten, aber ihr schien keine andere Wahl zu bleiben. Das Haus war riesig. »Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, ein solches Gebäude zu putzen?«, fragte Laverne.
»Dafür braucht man Hilfe«, antwortete Marnie. »Sehr viel Hilfe.«
Als sie eine Frauenstimme hörten, blieb Marnie stehen und legte den Finger auf die Lippen. Es klang, als unterhielte Kimberly sich am Telefon. Marnie schüttelte ihr Zögern ab und ging auf die Stimme zu. Kimberly war ihr Zugang zu Troy. Je eher sie mit ihr sprach, desto besser.
Marnie trat in ein großes Wohnzimmer. Dahinter führte eine offene Tür in einen Raum, der wie Kimberlys Arbeitszimmer aussah. Kimberly saß mit dem Rücken zur Tür am Schreibtisch und hielt ein Telefon ans Ohr gedrückt. Marnie klopfte leise an den Türrahmen.
»Schon wieder zurück, Dean?«, fragte Kimberly ohne sich umzublicken. »Einen Moment noch, ich rede gerade mit der Leiterin des Ferienlagers.« Sie war mit einem blassblauen Bademantel bekleidet und hatte einen Stift in den Fingern, mit dem sie nervös auf die Schreibtischplatte klopfte.
»Hier ist nicht Dean.« Marnie erhob die Stimme. »Ich bin’s – Marnie.«
Kimberly richtete sich unvermittelt im Sitzen auf und wandte sich um. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie zu ihrer Gesprächspartnerin am Telefon. »Marnie ist jetzt hier. Sie wird Troy heute Vormittag abholen.« Sie bedeutete Marnie mit einer Geste, sich zu setzen, und beendete das Gespräch, indem sie sich bei der anderen Seite bedankte und sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigte.
Sie legte auf, schenkte Marnie ein erleichtertes Lächeln, sprang dann auf und umarmte sie. »Marnie, es ist so schön, Sie wiederzusehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie da sind«, sagte sie und blickte dann zu Laverne, die zögernd in der Tür stand. »Hallo.«
»Wer ist Dean?«, fragte Laverne.
»Das ist Laverne«, stellte Marnie sie vor. »Sie begleitet mich.«
»O ja, Sie sind Marnies Stiefmutter. Wir haben miteinander telefoniert. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Kimberly schüttelte Laverne die Hand und rückte dann verlegen den Gürtel ihres Bademantels zurecht. »Bitte verzeihen Sie meine Aufmachung. Ich hatte Sie noch gar nicht erwartet. Nicht, dass mich Ihre frühe Ankunft stört«, fügte sie hastig hinzu. »Meine größte Angst war, dass Sie gar nicht kommen würden. Das wäre eine Katastrophe gewesen. Die letzten Tage waren unbeschreiblich hektisch. Dean – das ist mein Assistent – ist bei Tagesanbruch hier aufgekreuzt, um die Hunde in die Pension zu bringen, und seitdem hatte ich noch keinen Augenblick Ruhe. Jedes Mal, wenn ich etwas auf der Liste abhake, kommt irgendwie wieder etwas Neues dazu, sie wirdniemals kürzer.« Sie führte die Hand an ihr Haar und lachte. »Entschuldigung, ich sehe schrecklich aus.« Das stimmte nicht. Ihr Haar war zwar zerzaust und sie trug kein Makeup, aber keiner würde bestreiten, dass sie trotzdem eine umwerfend schöne Frau war. Sie hatte die feinen Gesichtszüge und die rosige Haut, die Marnie aus irgendeinem Grund mit französischen Frauen assoziierte, und sie war beneidenswert schlank, ohne mager zu sein. Ihr dichtes, blondes Haar fiel ihr in natürlichen Wellen auf die Schultern. Jedenfalls sah es so aus. Bei ihrer stummen Bestandsaufnahme fand Marnie nichts, was man hätte kritisieren können. Kimberlys makellose Ohren lagen dicht am Kopf an und ihre Zähne waren gleichmäßig und perlweiß, ohne wie eine Zahnblende zu wirken. Diese Frau war verdammt nochmal einfach vollkommen. Das einzige, was Marnie davon abhielt, sie zu hassen, war die unheimliche Ähnlichkeit mit Troy. Auf den Fotos war ihr das nie aufgefallen, aber von Angesicht zu Angesicht war sie nicht zu leugnen. In Kimberlys Körperhaltung, ihren Augen und ihrem Lächeln waren Spuren von Troy zu entdecken, und sogar in der Art, wie sie mit ihrem Stift herumspielte.
»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte Kimberly. »Ich wollte gerade einen Happen zu mir nehmen.« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern stand auf und führte sie in die Küche. Alles an diesem Haus war geräumig und lichtdurchflutet. Marnie fragte sich, ob es bei Kimberly nichts gab, was unordentlich war. Warum standen keine Schuhe neben der Tür und warum gab es
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